Meine erste Erinnerung an Odette und Ada stammt aus meiner Kindheit. Ein bestimmtes Bild sticht dabei heraus: Wir sitzen gemeinsam am langen Tisch im Garten meines Großvaters. Die beiden Schwestern müssen damals Anfang 50 gewesen sein. Sie trugen Brillen und einfache Sonnenhüte, unter denen dunkle, kurz geschnittene Locken zum Vorschein kamen.
Zu jener Zeit wusste ich noch fast nichts über die Schwestern. Doch die Art und Weise, wie mein Großvater ihren Erzählungen lauschte, ließ mich erahnen, dass sie spezielle Gäste waren. Denn sie waren bloß zu Besuch in der Schweiz. Sie sprachen Hebräisch, manchmal auch Französisch. Beide Sprachen verstand ich nicht. Weshalb ich dem Gartentisch auch bald den Rücken kehrte, mich unter einem schattigen Baum meinen Comic-Heften widmete.
Am nächsten Morgen erzählte mein Vater beim Frühstück, dass Odette und Ada als Kinder in Paris gelebt hätten. Eines Tages waren jedoch die Eltern verschwunden, die restlichen Geschwister auch. Kurz darauf mussten die zwei Mädchen Frankreich fluchtartig verlassen.
Es fiel mir schwer, zu akzeptieren, dass ganze Familien einfach so verschwinden konnten. Wenn ich in den folgenden Nächten deshalb nicht schlafen konnte, schlich ich mich ins Schlafzimmer meiner Eltern. Am Fuße des Bettes blieb ich jeweils stehen. In der Dunkelheit suchte ich dann ihre atmenden Körper.
Ihre Geschichte beginnt in Polen. Genauer gesagt in Łódź.
Einige Jahre später fuhr ich mit der Familie in den Urlaub nach Israel. Ich sah das tiefblaue Meer, prall gefüllte Märkte. Odette begegnete ich auf jener Reise nicht. Dafür ihrer jüngeren Schwester, Ada. Sie lebte in einem Kibbuz im Norden. Zügigen Schrittes führte sie uns durch das kleine Dorf. Die Sonne brannte, knallte auf die Feldwege. Ada reichte mir kühles Wasser und lächelte dabei.
Weshalb sie nie nach Paris zurückgekehrt war, fragte ich nicht. Stattdessen besuchten wir die örtliche Kartonfabrik. Dort arbeitete ihr Mann. Stolz zeigte er mir große Maschinen. Diese ratterten laut, spuckten Verpackungen aus ihren eisernen Mündern. Im Hintergrund sah ich meinen Vater, er stand dicht neben seiner Verwandten. Worüber sie sprachen, hörte ich nicht.
Die Cousinen des Großvaters waren Ehrengäste bei der Feier
Ich war bereits Anfang 20, als ich den Schwestern abermals begegnete. Ich hatte mich soeben in einem schönen Restaurant eingefunden. Anlass war der 90. Geburtstag meines Großvaters. Der Gefeierte saß prominent in der Mitte des Raumes, flankiert von den Ehrengästen aus Israel, seinen Cousinen, Odette und Ada, mittlerweile ältere Damen. Als sich der Abend dem Ende zuneigte, richtete sich Odette in einer Rede an meinen Großvater. Ihre Augen tränten. Ich erhob mich vom Tisch und verließ den Raum. Über meine Familiengeschichte wusste ich noch immer nicht viel. Doch mich näher mit ihr auseinandersetzen wollte oder konnte ich nicht.
Ada sah ich an jenem Abend zum letzten Mal. Kurz nach der Geburtstagsfeier verunglückte sie tödlich bei einem Verkehrsunfall. Mein Großvater war zu alt, um an der Beerdigung in Israel teilzunehmen. Einige Jahre später starb auch er. Sein Tod veränderte etwas in mir. Ich war bereits berufstätig, lebte im Ausland. Immer öfter sprach ich meinen Vater nun auf seine Familie an. Gemeinsam durchforsteten wir alte Fotos, lasen Dokumente, die er nach dem Tod seines Vaters gefunden hatte.
Als Sohn eines polnisch-jüdischen Immigranten war mein Großvater in der Schweiz in einfachen Verhältnissen aufgewachsen. Bereits früh steckte er sich große Ziele. So schaffte er es aufs Gymnasium, später an die Universität. Während er sich auf das Anwaltsexamen vorbereitete, hielt er um die Hand meiner Großmutter an.
Kurz darauf zerbrach Europa im Krieg. Gemeinsam mit seinen Eltern lebte mein Großvater in Basel bloß ein paar Kilometer von der Landesgrenze entfernt. Er lebte auf der richtigen Seite. Viele seiner Verwandten hatten weniger Glück. Nur selten hatte ich ihn darüber sprechen hören.
Erst als wir auf die holprigen Wege des Kibbuz einbogen, kam wieder Leben ins Auto
Als wir im Auto über die verstaubten Straßen rollten, war es still. Tel Aviv lag bereits hinter uns. Mein Vater saß am Lenkrad, meine Mutter neben ihm. Ich hatte auf der Rückbank Platz genommen. Schweigend fuhren wir Richtung Süden. Erst als wir auf die holprigen Wege des Kibbuz einbogen, kam wieder Leben ins Auto.
Wir sahen Odette bereits aus der Ferne. Auf einem Gehstock gestützt stand sie unter blühenden Bäumen, winkte uns zu. Ihr Haar war weiß geworden. Wir begrüßten sie und folgten ihr in die kleine Wohnung. Dort tranken wir Tee und aßen Obstsalat. Irgendwann hielt Odette inne. Sie musterte mich mit kleinen, wachen Augen. Ermutigend nickte sie mir zu.
Odettes Erzählung begann in Polen. Genauer gesagt in Łódź. Denn in jener zentralpolnischen Stadt war ihr Vater Anfang des 20. Jahrhunderts zur Welt gekommen. Das Leben der jüdischen Bevölkerung vor Ort war von Armut geprägt. Auf den Straßen sehnte man sich nach Arbeit, in den Gebetsstuben nach der Rückkehr ins heilige Jerusalem. Odettes Vater aber wollte nicht ins Land seiner Ahnen. Sondern ins vielversprechendere Paris. In der französischen Hauptstadt angekommen, heiratete er und gründete eine Familie. Sein Geld verdiente er als Arbeiter im Schichtbetrieb. Bis alles anders wurde.
Odettes Zuhause in Paris gab es nicht mehr. Sie reiste 1945 per Schiff nach Haifa.
Die Anfeindungen im öffentlichen Raum begannen kurz nach der deutschen Besetzung. Bald durften Jüdinnen und Juden ohne gelben Stern nicht mehr auf die Straße. Im November 1942 wurde Odettes Vater verhaftet. Die Mutter und zwei Geschwister folgten kurz darauf. Mithilfe einer Tante gelang Odette gemeinsam mit Ada die Flucht in die Schweiz. Dort kamen sie bei meinem Urgroßvater in Basel unter. Der polnische Immigrant hatte zwar nicht viel. Doch mit den Töchtern seines Bruders teilte er alles.
Das Leben in der Schweiz war ein stetiges Warten, ein Bangen um die Zurückgebliebenen. Mein Großvater und seine Geschwister waren wichtige Stützen. Dennoch verfielen die Schwestern immer wieder in Verzweiflung. Die Jahre vergingen, der Krieg endete. Dann kam die Nachricht, dass Odette und Ada die Schweiz wieder verlassen mussten. Ihr Zuhause in Paris gab es nicht mehr. So reisten sie im Sommer 1945 auf einem Schiff nach Haifa.
In Yad Vashem setzte ich mich im Dokumentationsraum vor einen Computer
In den Jahren nach meinem Besuch im Kibbuz kehrte ich immer wieder nach Israel zurück. In der staatlichen Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem setzte ich mich im Dokumentationsraum vor einen Computer. Ich öffnete die Datenbank für die Opfer der Schoa und gab im Suchfeld meinen Familiennamen ein.
Dutzende von Einträgen erschienen. Einige der aufgelisteten Personen waren mir bereits bekannt, von anderen hatte ich noch nie gehört. Ich scrollte, bis ich auf den Namen von Odettes Vater, Natan, stieß. Der polnische Arbeiter muss bereits kurz nach seiner Verhaftung umgekommen sein. In seiner Akte wird als Todesort das französische Durchgangslager Drancy vermerkt.
Ich suchte nach den restlichen Familienmitgliedern. Das Schicksal der Mutter Chaja war noch immer ungeklärt. Wo genau sie gestorben ist, weiß man nicht – das dafür vorgesehene Feld in ihrer Akte bleibt leer. Nicht so bei Odettes Geschwistern. Sie wurden ins Vernichtungslager Auschwitz verschleppt. Odettes ältere Schwester hieß Susanne, der jüngere Bruder Henri. Als er ermordet wurde, war er drei Jahre alt.
Das Kriegsende läutete in Europa eine neue Zeitrechnung ein. Die Jahre der Hetze und Verfolgung waren endlich vorbei. Mein Großvater hatte sich in Basel bald als angesehener Anwalt etabliert. Immer wieder verreiste er geschäftlich, besuchte Kunden auf der ganzen Welt. Nur nach Polen reiste er nie. Auch mein Vater hat das Land stets gemieden. Genauso wie ich. Erst vor Kurzem fuhren wir gemeinsam hin.
Als wir an einem warmen Herbsttag durch die gepflegten Straßen von Łódź liefen, wurde uns klar, dass es die schillernde, durchmischte Stadt von damals längst nicht mehr gab. Bloß Spuren der Geschichte waren noch zu finden. Wie auf dem örtlichen jüdischen Friedhof.
Dort, auf einem verwilderten Feld, liegt mein Ururgroßvater Hersch begraben. Geboren in einer mehrheitlich jüdischen Stadt im Osten Polens, war er aus wirtschaftlichen Gründen nach Łódź gezogen. Dort hatte er seinen Unterhalt als Weber bestritten, eine Familie gegründet, zahlreiche Kinder in die Welt gesetzt. Eines von ihnen wanderte später nach Basel aus, ein anderes nach Paris. Andere blieben vor Ort.
Als die deutschen Truppen 1939 Polen überfielen, war mein Ururgroßvater Hersch bereits tot
Als die deutschen Truppen 1939 Polen überfielen, war Hersch bereits tot. Gestorben war er eines natürlichen Todes. Viele seiner Angehörigen ereilte ein anderes Schicksal. Sie wurden aus ihren Häusern gezerrt, gequält, getötet. Ihre Überreste wurden in Wäldern verscharrt oder in Öfen verbrannt. Gräber für sie gibt es keine.
Die Geschichten jüdischer Familien sind oft kompliziert. Wer sie ergründen möchte, bleibt mit einer Art Flickenteppich zurück. Er setzt sich aus den unterschiedlichsten Namen, Sprachen, Erdteilen zusammen, die über die Jahrhunderte zu einem großen Ganzen vernäht wurden. Immer wieder klafft da ein Loch.
Nach dem 7. Oktober errichtete der Kibbuz einen eisernen Zaun.
Als ich neulich Odette im Kibbuz besuchte, bemerkte ich bereits bei der Einfahrt, dass sich etwas verändert hatte. Ein hoher eiserner Zaun war entlang des Geländes errichtet worden. Hinter dem Eingangstor wachte bewaffnetes Sicherheitspersonal. Die Ortschaften, die am 7. Oktober Schauplätze blutigster Massaker wurden, liegen bloß 20 Autominuten von Odette entfernt. Zwischen Erwachsenen, Kindern und Alten machten die Angreifer keinen Unterschied. Es hätte auch sie treffen können.
Odette empfing mich vor einem abgetretenen Blumenbeet. Sie sah müde aus. Wir machten einen Spaziergang, aßen gemeinsam zu Mittag. Danach setzten wir uns auf die Veranda vor ihre Wohnung. Am Vorabendhimmel waren kleine Wolken zu sehen. Wie Wattebällchen hingen sie über weitläufigen Hügeln. Odette offenbarte mir, dass ihr die Weltlage Sorgen bereitete. Die Ablehnung, auf die der 76 Jahre alte Staat Israel in der Region noch immer stoße, stimme sie traurig. Genauso wie der wieder aufflammende Judenhass, in Europa und anderswo.
Ich fragte Odette, wie es ihr stets gelungen war, nach vorn zu blicken, weiterzumachen, trotz der Hindernisse, die ihr das Schicksal immer wieder in den Weg gelegt hatte. Odette schwieg lange. Ihr Blick war auf die Hügel in der Ferne gerichtet. Ihr Antrieb, sagte sie mit klarer Stimme, sei all die Jahre derselbe gewesen: dieser innige Wunsch, auch den folgenden Tag noch erleben zu dürfen.
Odette schaute mich an und lächelte. Sie nickte leicht. Dann seufzte sie. Ihr Blick glitt wieder in die Ferne.