Ein Jahr bevor Franz Schubert starb, komponierte er die Winterreise, in der er unter anderem den Satz »Fremd bin ich eingezogen, fremd zieh ich wieder aus« vertonte. In seinem Todesjahr, 1828, schrieb er eine Messe, das Streichquintett in C-Dur, die letzten drei Klaviersonaten und den posthum veröffentlichten Schwanengesang. Am 19. November, um drei Uhr am Nachmittag, verlor Schubert den Kampf gegen die Syphilis und den Typhus – und starb im Haus seines Bruders Ferdinand in Wien.
Ahnt ein Mensch seinen eigenen Tod? Schreibt sich diese Ahnung in das Werk eines Komponisten ein? Und öffnet das Sterben auch die Perspektive bei der Interpretation von Musik?
Auf ihrer letzten Aufnahme spielt sie ausschließlich Werke aus Schuberts Todesjahr.
Dina Ugorskaja galt als eine der spannendsten Pianistinnen unserer Zeit. Sie studierte in Berlin und Detmold, wo sie auch unterrichtete – dann kam die Berufung als Professorin nach Wien. Ihr Vater, der Pianist Anatol Ugorski, floh 1990 mit seiner Familie aufgrund antisemitischer Anfeindungen aus St. Petersburg nach Deutschland und erspielte sich unter anderem mit den wagemutigen und visionären Diabelli-Variationen eine große Karriere.
Tochter Dina suchte ebenfalls nach Tiefe, nach der Selbstverständlichkeit der Verbindung von Intellekt und Emotionalität. Dabei ließ sie sich nie auf die Rolle der weiblichen Klavierspielerin festlegen. »Musik ist über das Geschlecht erhaben«, sagte sie einmal, »menschliche Gefühle sind reicher, als dass man sie einem Geschlecht zuordnen könnte.«
BEETHOVEN Die Krebs-Diagnose war der Anfang einer privaten Achterbahnfahrt aus Traurigkeit und Hoffnung. Ihren letzten Auftritt gab Ugorskaja mit Beethoven-Sonaten. Jener Musik, über die sie einmal sagte: »Früher wurde behauptet, dass die Musik Beethovens uns helfen würde, den Sozialismus aufzubauen. Zum Glück ist die Musik aber so viel mehr: eine Vielfalt der Emotionen, die bei so unendlich vielen Zielen des Lebens hilfreich sein kann.« Im September dieses Jahres verlor Dina Ugorskaja dann den Kampf gegen ihre Krankheit – mit nur 46 Jahren.
Nun ist ihre letzte Aufnahme erschienen. Darauf spielt sie ausschließlich Werke aus Schuberts letztem Lebensjahr: Neben den vier letzten Sonatensätzen der B-Dur-Sonate ist sie mit den drei nachgelassenen Klavierstücken und den sechs Moments Musicaux zu hören. Ein Repertoire, das man auch als Soundtrack der letzten großen Fragen verstehen kann: romantische Sehnsucht, dämonische Raserei, verklärte Schönheit – und Atem, ganz viel Atem!
Schneller Atem, ausgeruhter Atem und: letzter Atem. Ugorskaja flüstert, stockt und schreit. Es gibt bei ihr keine Faustregel für Schuberts Effekte und Kontraste, mal vermittelt sie, mal lässt sie das Konträre aufeinanderkrachen. Mal nimmt sie Schuberts naive Infantilität auf, mal seine musikalische Weisheit.
ERGREIFEND Es wäre mythologisierend, die ergreifende Existenzialität dieser Aufnahme alleine durch den nahen Tod der Klavierspielerin zu erklären. Aber die ernste Auseinandersetzung mit der Endlichkeit in dieser Musik lässt sich auch nicht von der Hand weisen. Letzte musikalische Gedanken über den Tod, das Sterben – besonders aber: über das Leben und seine Sinnhaftigkeit. Es ist trotz aller Melancholie das Tröstende, das in Ugorskajas Lesart überwiegt.
Sie gestaltet das Programm als Übergang und tastendes Transzendieren, öffnet Schuberts doppelte und dreifache Böden vorsichtig, staunt, erschrickt und bebt. Besonders in den Moments Musicaux verbindet Ugorskaja ihre Neugier mit stillem Humor und leisem Schmunzeln, das gerade im Angesicht der Endlichkeit und der Trauer zur Prophezeiung und zum Trost wächst. Eine Aufnahme, für die das Wort »Vermächtnis« zu schwer klingt, die eher so etwas wie einen Hauch der Erinnerung an das Existenzielle eines Lebens verströmt.
1990 floh Ugorskaja wegen antisemitischer Anfeindungen nach Deutschland.
In einem ihrer letzten Interviews wurde Ugorskaja gefragt, warum sie sich bei allem, was sie tue, so viel Zeit lasse. Ihre Antwort lautete damals: »Ich mache das nicht extra, sondern manches ergibt sich einfach. Bestimmte Dinge brauchen eben Zeit, um zu reifen. Ich sehe das an Stücken, die ich mit 25 Jahren gespielt habe, und heute – wie sie sich mit der Zeit in mir verändert haben.«
Gleichzeitig gab sie damals zu bedenken: »Natürlich gibt es auch eine frühe Reife in der Musik, Schubert war sehr jung, als er starb. Letztlich lernen wir von der Musik vielleicht die Mehrdimensionalität der Zeit – manchmal dauert eine Minute wie eine Ewigkeit, manchmal ist es genau umgekehrt.« Wie sehr hätte man Dina Ugorskaja noch einige Ewigkeiten mehr gegönnt.
Dina Ugorskaja: »Franz Schubert. Klaviersonate D 960, Drei Klavierstücke D 946, Moment Musicaux«. CAvi-music 2019