Pulitzer-Preis

Assimilierte Amerikaner, wilde Israelis

Der Romanautor Joshua Cohen Foto: picture alliance / ASSOCIATED PRESS

»Ich bin ein jüdischer Historiker, aber ich bin kein Historiker des Judentums«, stellt Robert Blum, Ich-Erzähler in Joshua Cohens Roman The Netanyahus, gleich zu Beginn des Buches klar. Es wird zu einer irrwitzigen Tour d’Horizon über die wahren wilden israelischen Juden, die angepassten amerikanischen Diaspora-Juden, den Zionismus und vieles mehr. Bei Cohen, der für seinen Roman mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet wurde, haben die US-Juden ein Heimspiel.

Blum ist Historiker an der fiktiven Corbin University, die für die Cornell University in Upstate New York steht, an der der Vater des einstigen israelischen Premiers Benjamin Netanjahu, Benzion (1910–2012), in den späten 50er-Jahren um eine Professur als Historiker anhielt. Blum wird in das Berufungskomitee gebeten. Er wundert sich ein wenig darüber, da er Amerikanist und Netanjahu Experte für iberische Geschichte des Mittelalters ist. Aber da Netanjahu Jude ist, möchte man Blums Expertise über dessen Eignung für den Posten aus Blums co-jüdischem Mund erfahren.

INQUISITION Als Blum die Bewerbung Netanjahus liest, kommt ihm die Argumentation über die Ursache der spanischen Inquisition weniger wissenschaftlich als vielmehr rabbinisch vor. Das ganze Elend sei nicht eingetreten, weil die Katholiken Juden zum Katholizismus bewegen wollten, sondern weil die Spanier den konvertierten Juden, den »conversos«, unterstellt hätten, heimlich ihren Glauben weiter zu praktizieren. Dies sei der erste institutionelle Antisemitismus gewesen. Die Juden seien nun mal zum Leiden verdammt – 1490 wie 1940.

Hinter der fiktiven Figur des Akademikers Blum, der der Bronx entkommen ist und sich mit Verve einer Assimilation in den gepflegten akademischen »American Way of Life« unterwirft, verbirgt sich der 2019 verstorbene Literaturkritiker Harold Bloom – ebenfalls gebürtig aus der Bronx. Bloom hatte Cohen kurz nach dem Tod Philip Roths 2018 zu sich nach Hause eingeladen. Im Laufe des hochgelehrten Gesprächs fragt Cohen Bloom nach den seiner Ansicht nach besten Büchern amerikanischer Juden.

Blooms Antwort verblüfft und schmeichelt Cohen gleichermaßen: »Call It Sleep von Henry Roth, Miss Lonelyhearts von Nathanael West, Sabbath’s Theater von Philip Roth, und ziemlich sicher Ihr Book of Numbers sind die vier besten Bücher jüdischer Schriftsteller in Amerika.« Aus dem Lob des Literatur-Doyens entsteht so die literarische Figur des Robert Blum.

VETTERNWIRTSCHAFT Und die kommt von ihrem Alter Ego, jenem seltsamen israelischen Wissenschaftler und Wesen, nicht los. Wie er sich auch entscheidet in Sachen Netanjahus Stelle, es wird ein Fehler sein. Oder wie es ihm seine Schwiegermutter bei einem Besuch sagt: »Wenn du dich dafür entscheidest, diesen Juden einzustellen, wird man das als jüdische Vetternwirtschaft betrachten. Wenn du dich dazu entschließt, diesem Juden die Stelle nicht zu geben, wird es heißen, du habest den Eindruck von jüdischer Vetternwirtschaft vermeiden wollen.«

Als Robert und Edith Blum die Netanjahus, samt den drei Söhnen Iddo, Benjamin und Jonathan, zum Besuch einladen, brechen die Dämme zwischen den assimilierten Juden und ihren »wilden« israelischen Brüdern und Schwestern. Die Netanjahus benehmen sich nicht gerade wie Mustergäste, ihre Mischung aus Rüpelhaftigkeit und Besserwisserei stößt den Blums sauer auf – und Nesthäkchen Iddo muss zunächst auf dem Blumschen Esstisch gewickelt werden, weil die Windel, olfaktorisch höchst wahrnehmbar, randvoll ist.

Auftritt Familie Netanjahu: »Mehr Schnee begann den Boden zu wässern, Sohlenprofile, sanken in die Arabesken des Perser-Imitats und Edith nahm einen erneuten Anlauf: ›Würde es Ihnen etwas ausmachen, bitte Ihre Schuhe? Wir halten es in unserem Haushalt ein bisschen mit den Asiaten.‹

SCHNÜRSENKEL Tzila (Netanjahu) sagte wieder irgendetwas, das zu prägnant klang, um übersetzt zu werden – ein einzelnes Wort (…) und die Jungs verharrten wie angewurzelt dort wo sie gerade standen, ließen sich fallen, die beiden älteren auf den Teppich, der jüngste auf dem Parkett, um dann an ihren viel zu fest verknoteten Schnürsenkeln herumzuziehen. ›Sie Beide auch, sofern es Ihnen nichts ausmacht‹, sagte Edith zu Tzila und Netanjahu, die sich fragend anschauten sich auf das Klappbett setzten, um auch ihre Schuhe auszuziehen.  

Niemand in der Familie trug Stiefel oder Überschuhe oder auch nur irgendwas, das ansatzweise für den Winter geeignet gewesen wäre. Netanjahu trug Schnürstiefel, Tzila flache Schuhe und die Jungs Baumwollturnschuhe. Tzilas Strümpfe waren klitschnass, und einer von Netanjahus Strümpfen hatte ein Loch, aus dem ein Großer Zeh mit einem schiefen, ungepflegten Nagel ragte.«

Dieser Netanjahu sagt aber Sätze wie »Zion war in der Lage, heute wieder zu existieren in Gestalt des neu gegründeten Staates Israel, weil es nicht als geschriebene Historie überliefert worden war, sondern als eine auslegbare Geschichte. Mit der Gründung Israels wurde das Poetische wieder zum Praktischen … Jetzt aber, da Israel existiert, sind die Tage der biblischen Geschichten vorüber, und die wahre Geschichte meines Volkes kann endlich beginnen.«

Das gibt nicht nur Blum zu denken. Auch Cohen, gewiss eher amerikanischer Feingeist als israelischer Rüpel, hat seinem furiosen Roman über die Wirrungen des Judentums folgenden Satz des Zionisten Zeev Jabotinsky vorangestellt: »Eliminiert die Diaspora oder die Diaspora wird euch eliminieren.« Benzion Netanjahu war Sekretär und Bewunderer Jabotinskys. Es ist halt alles nicht so einfach mit dem Judentum.

Joshua Cohen: »The Netanyahus. An Account of a Minor and Ultimately Even Negligible Episode in the History of a Very Famous Family«. New York Review Books, New York 2021, 248 S., 9,39 €

Auf Deutsch ist das Buch am 26. Januar 2023 erschienen: »Die Netanjahus. Roman. Aus dem Englischen von Ingo Herzke«, Schöffing, Frankfurt am Main 2023, 288 S., 25 €

Konzerte

Yasmin Levy in München und Zürich

Die israelisch-türkische Künstlerin aus einer sephardischen Familie singt auf Ladino, bzw. Judäo-Spanisch, einer fast vergessenen Sprache

von Imanuel Marcus  15.01.2025

Malerei

First Ladys der Abstraktion

Das Museum Reinhard Ernst in Wiesbaden zeigt farbenfrohe Bilder jüdischer Künstlerinnen

von Dorothee Baer-Bogenschütz  14.01.2025

Leipzig

»War is over« im Capa-Haus

Das Capa-Haus war nach jahrzehntelangem Verfall durch eine bürgerschaftliche Initiative wiederentdeckt und saniert worden

 14.01.2025

Debatte

»Zur freien Rede gehört auch, die Argumente zu hören, die man für falsch hält«

In einem Meinungsstück in der »Welt« machte Elon Musk Wahlwerbung für die AfD. Jetzt meldet sich der Axel-Springer-Chef Mathias Döpfner zu Wort

von Anna Ringle  13.01.2025

Krefeld

Gütliche Einigung über Campendonk-Gemälde

An der Einigung waren den Angaben nach die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien, Claudia Roth (Grüne), das Land NRW und die Kulturstiftung der Länder beteiligt

 13.01.2025

TV

Handgefertigte Erinnerung: Arte widmet Stolpersteinen eine Doku

Mehr als 100.000 Stolpersteine erinnern in 30 Ländern Europas an das Schicksal verfolgter Menschen im Zweiten Weltkrieg. Mit Entstehung und Zukunft des Kunstprojektes sowie dessen Hürden befasst sich ein Dokumentarfilm

von Wolfgang Wittenburg  13.01.2025

Mascha Kaléko

Großstadtdichterin mit sprühendem Witz

In den 20er-Jahren war Mascha Kaléko ein Star in Berlin. Die Nazis trieben sie ins Exil. Rund um ihren 50. Todestag erleben die Werke der jüdischen Dichterin eine Renaissance

von Christoph Arens  13.01.2025

Film

»Dude, wir sind Juden in einem Zug in Polen«

Bei den Oscar-Nominierungen darf man mit »A Real Pain« rechnen: Es handelt sich um eine Tragikomödie über das Erbe des Holocaust. Jesse Eisenberg und Kieran Culkin laufen zur Höchstform auf

von Lisa Forster  13.01.2025

Sehen!

»Shikun«

In Amos Gitais neuem Film bebt der geschichtsträchtige Beton zwischen gestern und heute

von Jens Balkenborg  12.01.2025