Eine »geborene Heldin« war sie nicht: die junge Brasilianerin, die großen Wert auf ihr äußeres Erscheinungsbild legte und auf der Suche nach einem guten Leben für sich war. Doch verfügte Aracy de Carvalho über ein paar Eigenschaften, die Heldentum zumindest begünstigen: viel Mut, eine ausgeprägte Sehnsucht nach Unabhängigkeit sowie ein starkes Gerechtigkeitsempfinden.
Mitte der 1930er-Jahre war die alleinerziehende Mutter eines kleinen Sohnes mit diesem über den Atlantik gereist - aus ihrer Heimat Brasilien nach Deutschland, dem Herkunftsland ihrer Mutter. In Sao Paulo war die getrennt lebende Frau Stigmatisierung und Vorurteilen ausgesetzt gewesen. Dem wollte sie entfliehen, im vermeintlich liberalen Europa ein neues Leben beginnen.
Selbstbestimmte Frau Der Dokumentarfilm »Die Fluchthelferin - Aracy de Carvalho«, den Arte am Donnerstag, den 8. Juni 2023 von 20.15 bis 21.45 Uhr ausstrahlt, erzählt die Lebensgeschichte dieser - auch unter heutigen Gesichtspunkten - auffallend selbstbestimmten Frau. Die zunächst unpolitisch war, Spaß haben und unabhängig leben wollte. Die aber von den Umständen ihres neuen Lebens dazu gedrängt wurde, sich zu positionieren.
Denn das freigeistige Deutschland, das sie auf einer Reise in den 1920er- Jahren kennengelernt hatte, gab es nicht mehr, als sie 1934 in Hamburg vom Schiff stieg. Aracy kam in einem Deutschland an, das kurz zuvor von den Nationalsozialisten übernommen worden war. Ein Land, das sich, wie der Film von Gabriele Rose so aufwändig wie engagiert nachzeichnet, fortan sukzessive zu einer radikal antisemitischen Diktatur veränderte. Ab 1936 arbeitete Aracy bei der brasilianischen Botschaft in Hamburg, war dort für die Visa-Vergabe zuständig.
Zugleich versuchten immer mehr Juden, aus einem zunehmend feindlichen Deutschland auszuwandern. Aracy, die in Brasilien selbst Ausgrenzung erlebt hatte, wollte deren Diskriminierung nicht mittragen. Und setzte sich immer öfter über die gleichfalls antisemitischen Vorgaben der nationalistischen brasilianischen Regierung hinweg.
Netzwerk mit Helfern Zudem baute sie ein Netzwerk mit Helfern in anderen Hamburger Behörden auf. Wie vielen Juden die junge Frau damit das Leben rettete, ist nicht bekannt. Schätzungen gehen von 80 bis zu mehreren hundert Personen aus. 1982 wurde Aracy als »Gerechte unter den Völkern« in Yad Vashem geehrt.
»Die Fluchthelferin - Aracy de Carvalho« erzählt aber nicht nur die Geschichte dieser Frau, die sich so beeindruckend wie klar von ihrem Gewissen leiten ließ. Der Film bettet ihre Story ein in eine reiche, äußerst informative Illustrierung des damaligen politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Klimas in Deutschland und Brasilien.
Mithilfe von Archivmaterial, Interviews mit durchweg eloquenten Historikerinnen und Historikern sowie erfreulich gut gemachten Reenactment-Szenen (Cristina do Rego spielt Aracy) wird ein stimmiges, beklemmendes Bild jener Jahre gezeichnet. Dazu kommen Gespräche mit Aracys Enkelin und Urenkelin sowie Nachkommen von Menschen, die durch die Hilfe der Botschaftsangestellten aus Nazi-Deutschland fliehen konnten.
Gewissenhaftes Verhalten Autorin Gabriele Rose bemüht sich spürbar, Aracy als Mensch und nicht als glatte Heldinnenfigur zu zeichnen - was deren respektvolles, im wahrsten Sinne des Wortes gewissenhaftes Verhalten umso deutlicher zutage treten lässt. Der Off-Kommentar ist sehr präsent, aber differenziert geschrieben, die Musikspur so dezent wie passend. Auch wird die für ein solches Projekt stolze Länge von 90 Minuten gut genutzt. Einzig der Regieeinfall mit den durch die Luft wirbelnden »neuen Zeichen« des NS-Alltags, Hakenkreuz und Co., wird nicht konsequent durchgezogen und überzeugt deshalb nicht recht.
Doch das ist zu vernachlässigen angesichts eines so sorgfältig und klug gestalteten Dokumentarfilms über eine Frau, die das Richtige tat zu einer Zeit, als sich die allermeisten für das Falsche entschieden.
»Die Fluchthelferin – Aracy de Carvalho«. Regie: Gabriele Rose. Arte, Do 08.06., 20.15 bis 21.45 Uhr.