TV-Tipp

Arte-Doku über eine Heldin der Nazi-Zeit

1982 wurde Aracy als »Gerechte unter den Völkern« in Yad Vashem geehrt. Foto: picture alliance / Xinhua News Agency

Eine »geborene Heldin« war sie nicht: die junge Brasilianerin, die großen Wert auf ihr äußeres Erscheinungsbild legte und auf der Suche nach einem guten Leben für sich war. Doch verfügte Aracy de Carvalho über ein paar Eigenschaften, die Heldentum zumindest begünstigen: viel Mut, eine ausgeprägte Sehnsucht nach Unabhängigkeit sowie ein starkes Gerechtigkeitsempfinden.

Mitte der 1930er-Jahre war die alleinerziehende Mutter eines kleinen Sohnes mit diesem über den Atlantik gereist - aus ihrer Heimat Brasilien nach Deutschland, dem Herkunftsland ihrer Mutter. In Sao Paulo war die getrennt lebende Frau Stigmatisierung und Vorurteilen ausgesetzt gewesen. Dem wollte sie entfliehen, im vermeintlich liberalen Europa ein neues Leben beginnen.

Selbstbestimmte Frau Der Dokumentarfilm »Die Fluchthelferin - Aracy de Carvalho«, den Arte am Donnerstag, den 8. Juni 2023 von 20.15 bis 21.45 Uhr ausstrahlt, erzählt die Lebensgeschichte dieser - auch unter heutigen Gesichtspunkten - auffallend selbstbestimmten Frau. Die zunächst unpolitisch war, Spaß haben und unabhängig leben wollte. Die aber von den Umständen ihres neuen Lebens dazu gedrängt wurde, sich zu positionieren.

Denn das freigeistige Deutschland, das sie auf einer Reise in den 1920er- Jahren kennengelernt hatte, gab es nicht mehr, als sie 1934 in Hamburg vom Schiff stieg. Aracy kam in einem Deutschland an, das kurz zuvor von den Nationalsozialisten übernommen worden war. Ein Land, das sich, wie der Film von Gabriele Rose so aufwändig wie engagiert nachzeichnet, fortan sukzessive zu einer radikal antisemitischen Diktatur veränderte. Ab 1936 arbeitete Aracy bei der brasilianischen Botschaft in Hamburg, war dort für die Visa-Vergabe zuständig.

Zugleich versuchten immer mehr Juden, aus einem zunehmend feindlichen Deutschland auszuwandern. Aracy, die in Brasilien selbst Ausgrenzung erlebt hatte, wollte deren Diskriminierung nicht mittragen. Und setzte sich immer öfter über die gleichfalls antisemitischen Vorgaben der nationalistischen brasilianischen Regierung hinweg.

Netzwerk mit Helfern Zudem baute sie ein Netzwerk mit Helfern in anderen Hamburger Behörden auf. Wie vielen Juden die junge Frau damit das Leben rettete, ist nicht bekannt. Schätzungen gehen von 80 bis zu mehreren hundert Personen aus. 1982 wurde Aracy als »Gerechte unter den Völkern« in Yad Vashem geehrt.

»Die Fluchthelferin - Aracy de Carvalho« erzählt aber nicht nur die Geschichte dieser Frau, die sich so beeindruckend wie klar von ihrem Gewissen leiten ließ. Der Film bettet ihre Story ein in eine reiche, äußerst informative Illustrierung des damaligen politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Klimas in Deutschland und Brasilien.

Mithilfe von Archivmaterial, Interviews mit durchweg eloquenten Historikerinnen und Historikern sowie erfreulich gut gemachten Reenactment-Szenen (Cristina do Rego spielt Aracy) wird ein stimmiges, beklemmendes Bild jener Jahre gezeichnet. Dazu kommen Gespräche mit Aracys Enkelin und Urenkelin sowie Nachkommen von Menschen, die durch die Hilfe der Botschaftsangestellten aus Nazi-Deutschland fliehen konnten.

Gewissenhaftes Verhalten Autorin Gabriele Rose bemüht sich spürbar, Aracy als Mensch und nicht als glatte Heldinnenfigur zu zeichnen - was deren respektvolles, im wahrsten Sinne des Wortes gewissenhaftes Verhalten umso deutlicher zutage treten lässt. Der Off-Kommentar ist sehr präsent, aber differenziert geschrieben, die Musikspur so dezent wie passend. Auch wird die für ein solches Projekt stolze Länge von 90 Minuten gut genutzt. Einzig der Regieeinfall mit den durch die Luft wirbelnden »neuen Zeichen« des NS-Alltags, Hakenkreuz und Co., wird nicht konsequent durchgezogen und überzeugt deshalb nicht recht.

Doch das ist zu vernachlässigen angesichts eines so sorgfältig und klug gestalteten Dokumentarfilms über eine Frau, die das Richtige tat zu einer Zeit, als sich die allermeisten für das Falsche entschieden.

»Die Fluchthelferin – Aracy de Carvalho«. Regie: Gabriele Rose. Arte, Do 08.06., 20.15 bis 21.45 Uhr.

Kino

Jüdisches Filmfest stellt 57 Produktionen vor

Vom Streifen eines beduinischen Regisseurs bis hin zu einem Neo-Western mit einem Rabbi als Actionheld ist dieses Jahr eine Bandbreite an Filmen zu sehen

 29.03.2025

TV-Legende

Rosenthal-Spielfilm: Vom versteckten Juden zum Publikumsliebling

»Zwei Leben in Deutschland«, so der Titel seiner Autobiografie, hat Hans Rosenthal gelebt: Als von den Nazis verfolgter Jude und später als erfolgreicher Showmaster. Ein Spielfilm spürt diesem Zwiespalt nun gekonnt nach

von Katharina Zeckau  28.03.2025

Patrick Modiano

Tanz durch die Erinnerung

Patrick Modianos Hommage an eine namenlose Tänzerin widmet sich den kleinen Dramen des Alltags, die es zu meistern gilt

von Ellen Presser  28.03.2025

Taffy Brodesser-Akner

Vom Dibbuk im Getriebe

Gleich drei Generationen sind in dem neuen Roman der amerikanischen Journalistin und Autorin ziemlich dysfunktional

von Sharon Adler  28.03.2025

Roberto Saviano

Intrigen und Verrat

Der italienisch-jüdische Autor schreibt sprachgewaltig in zwölf Erzählungen über die Frauen in der Mafia

von Knut Elstermann  28.03.2025

Thomas Mann

König der Emigranten

Martin Mittelmeier beleuchtet Leben und politisches Wirken des Nobelpreisträgers im kalifornischen Exil

von Tobias Kühn  28.03.2025

Assaf Gavron

Weltregierung und Einsamkeit

Erfrischend, erstaunlich, spannend: Zwei neue Erzählungen des israelischen Autors

von Maria Ossowski  28.03.2025

Geschichte

Mehr als die Bielski-Brüder

Der NS-Historiker Stephan Lehnstaedt hat ein erhellendes Buch über den jüdischen Widerstand veröffentlicht

von Alexander Kluy  28.03.2025

Friedl Benedikt

Die Schülerin

Im Nachlass von Elias Canetti wurde die vergessene literarische Stimme einer beeindruckenden Autorin gefunden

von Sophie Albers Ben Chamo  28.03.2025