Angesprochen auf seine jüdische Identität antwortete Peter Gay, er fühle sich als wurzelloser Kosmopolit. »Jude bin ich erst infolge eines Dekrets der Nazi-Regierung geworden. Vorher war ich Deutscher.« Als Sohn eines aus Polen stammenden Ostjuden, der sein Geld als Vertreter für Porzellanwaren verdiente und im Ersten Weltkrieg an der Front gekämpft hatte, wird er am 20. Juni 1923 als Peter Joachim Fröhlich geboren und wächst im bürgerlichen Berlin-Wilmersdorf auf.
Sein Vater Moritz war aus der jüdischen Gemeinde ausgetreten und bezeichnete sich selbst als konfessionslos. Als er und sein Sohn 1933 dann SA-Männer mit Schildern sehen, auf denen »Kauft nicht bei Juden!« steht, wird ihnen klar, dass das nicht mehr ihr Land ist – und wohl auch nie wieder sein wird.
Ausgrenzung Die Eltern versuchen, das Kind zu beruhigen. Sagen, die deutsche Kultur gehöre ihnen viel eher als jenen, von denen sie regiert werden. Und Peter? Der verkriecht sich in seine Briefmarkenalben. Er besucht Spiele der Hertha, vergisst in der jubelnden Menge für kurze Zeit die Ausgrenzung als Jude. Bei den Olympischen Spielen 1936 bewundert er den Laufstil von Jesse Owens und kann nicht ahnen, dass er wenige Jahre später selbst Amerikaner werden wird. Mit den Eltern emigriert er 1939, flieht über Kuba in die USA. Die Familie überlebt nur, weil der Vater Papiere fälscht, ein früheres Schiff nimmt und nicht – wie gebucht – den Flüchtlingsdampfer »St. Louis«, der keine Anlegeerlaubnis bekommt und tragischerweise wieder nach Europa zurückkehren muss.
Es ist sicher kein Zufall, dass der junge Mann an der Columbia University Geschichtswissenschaften studiert. Er macht sich »die historische Erforschung der Vergangenheit« zur Lebensaufgabe, »um sie in Besitz zu nehmen, um zu verstehen, wie es eigentlich gewesen ist, und wie man miteinander auskommen kann«. So formuliert er es selbst 1999 in seiner Rede anlässlich der Verleihung des Geschwister-Scholl-Preises, den er für seine Autobiografie Meine deutsche Frage. Jugend in Berlin 1933–1939 erhält.
Ein Leben lang bleibt er in den USA, nennt sich ab 1940 Peter Gay und nimmt sechs Jahre später die amerikanische Staatsbürgerschaft an. 1961 besucht er zum ersten Mal wieder Deutschland – und empfindet das als »Katastrophe«. In Yale lehrt er als Professor, schreibt mehr als 25 Bücher. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung nannte ihn mit gutem Grund einmal den »bedeutendsten Kulturhistoriker der Gegenwart«.
Bürgertum Nachdem er in Voltaires Politik (1959) bereits die Werte der Toleranz hinterfragt hat, nimmt er sich das Bürgertum vor. In Die Republik der Außenseiter. Geist und Kultur in der Weimarer Zeit: 1918–1933 (1968) und seiner fünfbändigen Geschichte des europäischen Bürgertums The Bourgeois Experience: Victoria to Freud (1984–1998) sieht er in der im 19. Jahrhundert sich vollziehenden Trennung zwischen Öffentlichem und Privatem den Nährboden für die totalitaristischen Tragödien des 20. Jahrhunderts.
Immer steht bei ihm der Mensch im Vordergrund. Deswegen studierte Gay schon als Geschichtsprofessor noch Psychoanalyse, um sich neue Perspektiven zu erschließen. In der Biografie eines jeden Autors sieht er den wichtigsten Schlüssel zu dessen Werk. Arbeiten über Sigmund Freud entstehen in Folge, von denen Freud. Eine Biografie für unsere Zeit (1989) die bekannteste ist und bis heute als das wichtigste Standardwerk in der Freud-Forschung gilt.
Aufklären wollte er, Arbeit an der Zivilisation leisten und die historische Naivität wenigstens etwas beheben. Peter Gay, der sich selbst einmal einen »nichtjüdischen Juden« nannte, ist am Dienstag vergangener Woche in New York mit 91 Jahren gestorben.