Kolumne

Anwesenheit zählt

Eine Agnostikerin in der Dohány-Synagoge in Budapest

von Ayala Goldmann  01.10.2024 15:58 Uhr

Die Dohány-Synagoge in Budapest Foto: Marco Limberg

Eine Agnostikerin in der Dohány-Synagoge in Budapest

von Ayala Goldmann  01.10.2024 15:58 Uhr

Dieses Licht. Dieser Raum. Diese Weite. Noch nie hat mich eine Synagoge so fasziniert wie die in der Dohány-Straße in Budapest – die größte Synagoge Europas. Ich gehe selten in Gottesdienste. Aber im Urlaub reichte es mir nicht, dieses Gebäude zu besichtigen. Ich wollte es erfahren, mit allen Sinnen, und etwas mitnehmen, das mich durch die Krisen trägt.

Dieses Gotteshaus im maurisch-byzantinischen Stil, in dem man – wie ein Guide anmerkte – zuerst gar nicht weiß, ob man sich in einer Synagoge oder in einer Kirche befindet. Das herrliche Licht, das durch die gelb-blauen Fenster in den Betsaal fällt. Der Gottesname über der Bima in goldener Pracht. Die Orgel, die früher, wie erzählt wird, am Schabbat ein Christ gespielt haben soll. Zwei Türme mit Uhren und Davidsternen. Und weite Innenhöfe, erbaut für eine lebenslustige Gemeinde. 1944 kamen die Deutschen, deportierten Hunderttausende Menschen nach Auschwitz und verwandelten den wunderbaren Garten in ein Massengrab.

Was für eine Tragödie. Was für eine Kraft. Ich erkundigte mich nach dem Gottesdienst. »Sagen Sie, der General Manager hat Sie eingeladen«, briefte mich ein älterer Jude. Als ich am Schabbat kurz nach neun Uhr wieder vor der Synagoge stand, begegneten mir die Wachmänner mit Misstrauen. Warum ich keinen Pass dabei hätte. Und mein Kleid sei zu kurz. Ich zog das Kleid über die Knie: »Jetzt ist es lang genug.« Am Eingang warnte mich ein junger Jude: »Aber Sie gehen vor dem Kiddusch!«

Nach jeder Alija beglückwünschten sich die Männer gegenseitig mit »Shkoyach!«.

Ich holte mir einen Siddur und stellte mich an die Seite, in den Frauenbereich. Auf der Bima öffneten und schlossen Männer den Schrank mit den Torarollen und riefen andere Männer zur Lesung auf. Nach jeder Alija beglückwünschten sie sich gegenseitig mit »Shkoyach!«. Was auf den Talmud zurückgeht (»Yeyasher Koach«) und frei übersetzt heißt: »Möge deine Kraft gestärkt werden.«

Mitten in der Toralesung hatte ich ein Problem. Ich wandte mich Richtung Ausgang. Ein sehr alter Jude mit krummem Rücken kam langsam, aber bestimmt auf mich zu. »Sie gehen schon?« »Nein, ich muss zur Toilette.« »Nicht mit dem Siddur«, sagte der alte Mann und nahm mir das Buch ab. Ich wäre am liebsten im Boden versunken. Als ich zurückkam, stellte ich mich still auf meinen Platz. Kurz darauf kam der uralte Mann zu meiner Bank und gab mir das Gebetbuch zurück. Der Gottesdienst dauerte zweieinhalb Stunden. Es war Hochsommer und schwül, gefühlt 35 Grad, die Luft in der Synagoge stickig.

Nach dem Gebet stand ich sofort auf. Nicht, dass die ungarischen Beter denken könnten, ich legte es darauf an, mich selbst zum Kiddusch einzuladen, wie es wohl viele israelische Touristen in Budapest tun. Den Siddur wollte ich an seinen Platz zurückstellen.

Doch war da wieder der alte Mann. Er nahm mir das Gebetbuch aus der Hand, sah mich freundlich an und sagte: »Shkoyach!« Womit hatte ich das verdient? Ich war nur anwesend … Reicht das? Für diesen alten Juden offenbar schon. Lange Zeit war ich nicht mehr so stolz und glücklich. Anwesenheit zählt. Gerade jetzt. Ich lächelte ihn an und antwortete: »Shkoyach!«

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