22. Juni 1941

Antifaschistische Konstante

Im Morgengrauen: Deutsche Infanteriesoldaten überqueren die Grenze zu Russland. Foto: ullstein bild - Weltbild

Meine Teenager-Zeit wurde vom sowjetisch-jüdischen Schriftsteller Lew Kassil (1905–1970) und dessen Büchern geprägt. In den Jahren 1941 bis 1948 schrieb er einen zweiteiligen Roman, der in den 60er-Jahren auch in der damaligen DDR erschien: Der erste Teil heißt in deutscher Übersetzung Das Mädchen Ustja und handelt von einer platonischen, kreativen Romanze zwischen einem Moskauer Mädchen, Sima Krupicyna, und einem berühmten Filmregisseur, in dessen Film sie ein russisches Partisanenmädchen spielt. Ustja kämpft in ihrer Filmrolle im ersten russischen »Vaterländischen Krieg« des Jahres 1812 gegen Napoleon.

Der zweite Teil heißt Das Mädchen Sima und handelt von Sima Krupicyna im Krieg der Sowjetunion gegen Nazideutschland. Dieser Teil beginnt mit dem Sommersonnenwendetag, dem 22. Juni 1941.

8,5 Millionen sowjetische Soldaten kamen in den Kampfhandlungen um.

Eine Gruppe junger Leute übernachtete auf einer Insel bei Moskau. Die Gespräche der Jugendlichen waren spannend und unschuldig. Ihre Träume über eine glückliche – wie anders? – Zukunft wurden von dem hellen Licht des Lagerfeuers beleuchtet. Doch plötzlich wurde das Lagerfeuer zu einer Gefahr: Es hätte die feindlichen Flugzeuge aufmerksam machen können. In jenen Stunden begann ein zweiter »Vaterländischer Krieg«, die Gruppe auf der Insel (damals noch ohne Smartphones) wusste nichts davon. Es begann ein Drama im realen Leben der jungen Sima: der »Große Vaterländische Krieg« des Sowjetvolkes gegen Nazideutschland (22. Juni 1941 – 9. Mai 1945).

Gefahr Lew Kassil, ein großer Stilist, wusste genau, wie er die Verbindung zwischen den beiden Befreiungskriegen Russlands herstellen sollte. Er stand auch, wie so viele Juden damals, bedingungslos zur Sowjetunion und ihrer Politik. Erst eine Woche nach Kriegsbeginn sprach Josef Stalin zu dem ihm ergebenen sowjetischen Volk.

Er nannte die Angehörigen dieses Volkes nicht mehr wie üblich »Bürger« oder »Genossen«. Keine »Volksfeinde« wurden in Stalins Rede zur Vernichtung freigegeben. Nein, Josef Stalin sprach plötzlich von »Brüdern und Schwestern«. Das mobilisierte die sowjetische Bevölkerung in starkem Maße. Denn die Gefahr war konkret: Die Sowjetunion wurde von einer de facto gesamteuropäischen Kriegsmaschine unter der Führung Adolf Hitlers angegriffen und war schlecht auf einen Krieg vorbereitet. In der Konsequenz konnte sie aufhören zu existieren.

Genau das war ein wesentlicher Bestandteil des »Unternehmens Barbarossa« – so nannte Nazideutschland seinen Kriegsplan –, das eine erbarmungslose Kriegsführung »im Osten« voraussetzte.

Die knapp 3,5 Millionen deutschen Soldaten, die die UdSSR am frühen Morgen (um 3 Uhr früh Mitteleuropäischer Zeit) am 22. Juni 1941 angriffen, sollten einen erfolgreichen »Blitzkrieg« führen. Dieser sollte den sowjetischen »Kommunismus«, der neben dem »Weltjudentum« zum Hauptfeind des »Dritten Reiches« erklärt wurde, vernichten. Die »Slawen« und die »Asiaten«, wie die Völker der UdSSR von den Nationalsozialisten verachtend genannt wurden, sollten ermordet beziehungsweise versklavt werden.

Opfer Diejenigen, die sich mit der Geschichte dieses Krieges kontinuierlich beschäftigt haben, wurden im Laufe der letzten Jahrzehnte mit den immer furchtbarer werdenden Zahlen konfrontiert: zunächst 20, dann 25, heute mindestens 27 Millionen sowjetische Opfer des Krieges. Immer wieder mussten die Zahlen nach oben korrigiert werden.

Fest steht, dass circa 8,5 Millionen sowjetische Soldaten in den Kampfhandlungen umkamen und mindestens drei Millionen in deutscher Kriegsgefangenschaft. Die Mehrheit der Kriegsopfer, circa 15 Millionen, waren sowjetische Zivilisten. Darunter mindestens 2,6 Millionen Juden, die nur deswegen umgebracht wurden, weil sie Juden waren.

Die Geschichtswissenschaft sprach lange Zeit von sowjetisch-jüdischen »Siegern« im Zweiten Weltkrieg, die nach 1990 ausgerechnet nach Deutschland eingewandert sind. Doch spätestens zu diesem 80. Jahrestag des Überfalls Nazideutschlands auf die UdSSR müssen wir feststellen, dass das heutige Nachdenken über den Zweiten Weltkrieg und die Schoa jenseits der Dualität von »Siegern« und »Opfern« verlaufen muss: Die jüdischen Soldaten und Soldatinnen, die Berlin, Budapest oder Prag befreiten und damit den Krieg beendeten und von denen mindestens 200.000 gefallen sind, haben oft ihre ganzen Familien in einer ersten Phase des Krieges in der Ukraine, Weißrussland, Litauen oder Moldawien verloren.

Denkmal Und sie selbst wurden nach dem Krieg Opfer antisemitischer Kampagnen in der Sowjetunion, wobei das Wort »Schoa« den sowjetischen Menschen unbekannt war: »Friedliche Bürger« seien umgebracht worden, das war ein Euphemismus für Juden. In Vilnius (Paneriai), in Riga (Bikernieki), in Kiew (Babi Jar) oder in meiner Geburtsstadt Dnepropetrowsk (heute Dnipro) hieß es auf den bald nach dem Krieg entstandenen Denkmälern: »Gewidmet den friedlichen Bürgern, den Opfern des Faschismus«. Es hat bis zur Perestroika gedauert, ehe aus den ano­nymen »Mitbürgern« Jüdinnen und Ju-
den wurden.

Wir begehen dieses traurige und für Europa, Deutschland sowie die jüdische Gemeinschaft hierzulande äußerst wichtige Jubiläum mit vielen offenen Fragen.

Warum ist der Überfall Nazideutschlands auf die Sowjetunion kaum oder nicht ein Bestandteil kollektiver Erinnerung hierzulande? Warum spielt das Gedenken ziviler und militärischer sowjetischer Opfer dieses Krieges keine wichtige Rolle für unsere Erinnerungskultur? War dabei eine radikale politische Abgrenzung vom »Osten« während des Kalten Krieges prägend?

Wir begehen dieses äußerst wichtige Jubiläum mit vielen offenen Fragen.

Wie können wir das friedensstiftende Potenzial unserer jüdischen Gemeinden besser nutzen, in denen Jüdinnen und Juden unter anderem aus Russland, der Ukraine und aus Weißrussland zusammentreffen, Länder, die heutzutage von schweren Konflikten erschüttert sind? Warum wird erst jetzt, im Juni 2021, mit Frank-Walter Steinmeier ein erster deutscher Bundespräsident im deutsch-russischen Kriegsmuseum Berlin-Karlshorst sprechen? Wie wollen wir die verbrecherischen Erfahrungen der Wehrmachtssoldaten in den besetzten Gebieten der UdSSR heute historisch und gesellschaftlich aufarbeiten – die Wehrmachtsausstellung ist inzwischen einige Jahre her?

Die soeben abgeschlossene 16-bändige Edition Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933–1945 mit vielen Beispielen aus Osteuropa ist genauso ein wissenschaftlich wichtiger Schritt in eine richtige Richtung, wie ein unter der Federführung des Deutschen Historischen Museums erarbeitetes Konzept einer Dokumentations-, Bildungs- und Erinnerungsstätte zum deutschen Vernichtungskrieg und zur Besatzungsherrschaft in Europa 1939 bis 1945.

Minsk Der Zentralrat der Juden war 2010 Mitherausgeber der Erinnerungen von nach Deutschland emigrierten postsowjetischen Jüdinnen und Juden an den Krieg. Raissa Erminson dachte hierin an den 22. Juni 1941 zurück: »Ich erinnere mich an den unheilvoll schönen, feurigen Himmel. Die Erwachsenen versuchten zu beruhigen: Das ist der Sonnenuntergang. Nein! Es war Minsk, das brannte!«

Wir suchen heute, oft vergeblich, nach wirksamen antifaschistischen Argumenten für unsere Gesellschaft. Der Krieg, den die Sowjetunion und die Alliierten gegen Nazideutschland und seine Verbündeten geführt hatten, bleibt eine solche antifaschistische Konstante. Sie soll in deutscher und europäischer Erinnerung eine deutlich größere Rolle spielen: Nichts ist zu beschönigen, doch noch so vieles zu verstehen.

Der Autor ist Historiker, Verfasser des Buches »Germanija: Wie ich in Deutschland jüdisch und erwachsen wurde« und Leiter des Projekts »Schalom Aleikum. Jüdisch-muslimischer Dialog« beim Zentralrat der Juden in Deutschland.

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