Die Anthroposophie gehört zu den umtriebigsten neureligiösen Bewegungen in Deutschland. Dabei sind die Mitgliederzahlen der 1913 von Rudolf Steiner (1861-1925) gegründeten Anthroposophischen Gesellschaft seit den 1980ern rückläufig und liegen bei wenigen Zehntausend. Die Anthroposophie leidet an Überalterung, inzwischen so sehr, dass einige ihrer Institutionen in Gefahr sind.
Zugleich expandieren anthroposophische Theoreme und Praktiken weltweit. Denn seit den 1920er Jahren haben Steiners Fans eine ganze Reihe von Unternehmen und Marken hervorgebracht, wie Waldorfschulen, Voelkel-Natursäfte, dm-Drogerien oder Demeter-Landwirtschaft. Diese Marken sind der esoterischen Lehre, die sie zusammenhält, sehr unterschiedlich verbunden: Wer Kosmetik oder Alternativmedizin der Weleda AG kauft, finanziert eine Schweizer Aktiengesellschaft, zu deren Hauptaktionären die Anthroposophische Gesellschaft gehört. Dagegen hatten Konzerne wie Alnatura und dm vor allem prominente anthroposophische Gründerfiguren. Unterdessen gibt es im deutschsprachigen Raum sogar Universitäten, die ein anthroposophisches Leitbild mit wissenschaftlicher Forschung verbinden wollen.
Heute kommt man allenfalls noch über anthroposophische Institutionen mit Steiner in Berührung. Nach dem Ersten Weltkrieg war das umgekehrt: Der Esoteriker füllte Konzertsäle, gelegentlich mussten Straßen abgesperrt werden, weil so viele Leute zu seinen Vorträgen kamen. Steiner verband den apokalyptischen Zeitgeist mit komplexen intellektuellen Konstruktionen. Er war promovierter Philosoph, hatte als Goethe-Philologe gearbeitet, eines der ersten wichtigen Bücher über Friedrich Nietzsche geschrieben, sich um 1900 im Berliner Anarchismus und so einigen Kneipen umgetan.
Nicht wenige wichtige Schüler Steiners waren jüdischer Herkunft
Mit etwa 40 Jahren entwickelte er sich über Nacht zum Esoteriker. In der Theosophischen Gesellschaft fand der mittellose Intellektuelle plötzlich Anerkennung, ein zahlungskräftiges Publikum und eine umfassende »Welt- und Lebensanschauung«. Die Theosophie und frühe Anthroposophie waren trotz ihrer inzwischen viel kritisierten abstrusen und rassistischen Inhalte sozial progressiv. Das zeigte etwa der relativ hohe Anteil weiblicher oder jüdischer Mitglieder in Führungspositionen.
An Steiners ambivalentem Verhältnis zum Judentum lässt sich seine wechselhafte Biographie illustrieren. Wenn er den Begriff Antisemitismus benutzte, dann stets kritisch, dennoch äußerte er sich beharrlich antijüdisch. In seinen Wiener Studentenjahren arbeitete er als Hauslehrer bei einer jüdischen Familie und verteidigte zugleich Robert Hamerlings judenfeindliche Satire Homunculus gegen den Vorwurf des Antisemitismus – selbst in deutlich antisemitischer Diktion: Der »Geist des Judentums« stamme »aus dem grauen Altertum«, dass er noch existiere, sei »ein Fehler der Weltgeschichte«. Das war nicht sein letztes Wort zum Thema.
»Es ist doch einerlei«, schrieb Steiner 1897, »ob jemand Jude oder Germane ist: finde ich ihn nett, so mag ich ihn; ist er ekelhaft, so meide ich ihn. Das ist so einfach, daß man fast dumm ist, wenn man es sagt. Wie dumm muß man aber erst sein, wenn man das Gegenteil sagt! Ich halte die Antisemiten für ungefährliche Leute.« Während Antisemiten wie dumme »Kinder« seien, hielt Steiner die Zionisten für »viel schlimmer«. Ihnen warf er vor, sich von der »allgemeinen« Menschheit abzusondern.
Während Antisemiten wie dumme »Kinder« seien, hielt Steiner die Zionisten für »viel schlimmer«.
Vier Jahre später korrigierte Steiner diese Position und schrieb mehrere Artikel für den Verein zur Abwehr des Antisemitismus. Hatte er kurz davor noch Nietzsches Antichristen gefeiert, begann er kurz danach, sich in die Esoterik zu vertiefen. In einer Vortragsreihe über antike Grundlagen des Christentums erklärte er den jüdischen Philosophen Philo von Alexandria, der ein »Mystiker« gewesen sei, zu dessen wahren Ideengeber: »Ohne die jüdische Mystik ist keine richtige Auffassung des Christentums möglich.« So falsch das alles historisch ist – ganz zu Beginn seiner esoterischen Karriere versuchte Steiner, ein mystisch-jüdisches Urchristentum gegen die christlichen Kirchen starkzumachen.
Bald darauf bauschte Steiner das Christentum zu immer mehr kosmischer Größe auf und verkleinerte die »Mission« des Judentums: Es habe den Leib Jesu und den menschlichen »Intellekt« hervorgebracht. Letzterer sei längst zum »Zersetzungsferment« geworden und müsse durch eine neue Geistigkeit ersetzt werden. Das Judentum galt dem esoterischen Steiner als überholtes Bluts- und Kollektivbewusstsein. Auf diese Konstruktion kam er besonders im Ersten Weltkrieg wieder zurück, den er als »Verschwörung« gegen »deutsches Geistesleben« und Rückfall in solches Kollektivdenken betrachtete.
Noch im Mai 1924, ein Jahr vor seinem Tod, wiederholte Steiner in einem Vortrag über das »Wesen des Judentums« allerlei Stereotype vom Judentum als abstrakt-materialistischem Begriffsdenken. Zwei Tage später sprach Steiner über die zehn Sefirot der kabbalistischen Tradition, die er als Bild des »Menschenwesens« erkannte. Die gleichfalls wichtigen göttlichen und kosmogonischen Aspekte der Sefirot waren ihm dabei ebenso entgangen wie der Umstand, dass sie einiges mit seiner eigenen Version der Weltschöpfung gemeinsam hatten.
Steiner war nicht bewusst, wie viele seiner Ideen aus der Kabbala stammten
Viele von Steiners Ideen sind indirekt durch die popularisierte Kabbala aus dem Okkultismus des 19. Jahrhunderts beeinflusst. Ihm selbst war das am wenigsten bewusst – in einer gigantischen Verdrängungsleistung behauptete er stets, alles selbst »erlebt« und die übersinnlichen Welten »wissenschaftlich erforscht« zu haben. Während Steiner im historischen Rückblick wie ein Schwamm erscheint, der alles Mögliche aufsog und popularisierte, meinte er, wahres Wissen sei über trockenes Quellenstudium erhaben und müsse allein aus dem »Ich« kommen.
Immer wieder versuchten jüdische Anhänger Steiners, dessen Weltsicht mit Kabbalistischem zu verbinden. Der Höhepunkt dieser Literatur ist die Sohar-Übersetzung des anthroposophischen Zionisten Ernst Müller. Während der Kabbalaforscher Gershom Scholem noch empört auf sie reagierte, erregt Müllers überraschende Kombination von Kontexten und Ideen in den letzten Jahren immer wieder wissenschaftliches Interesse.
Nicht wenige der ›großen‹ Schüler Steiners – wie Carl Unger und Adolf Arenson – waren jüdischer Herkunft. Die meisten von ihnen bekannten sich zum Christentum. Eine Ausnahme war der Philosoph und prominente Zionist Schmuel Hugo Bergman, der erste Rektor der Hebräischen Universität Jerusalem. Unter seiner Leitung war die Jerusalemer Universität die einzige, die 1961 zu Steiners 100. Geburtstag eine offizielle Gedenkveranstaltung abhielt. Bergman interessierte sich nicht nur für Steiners Philosophie und Esoterik, sondern auch für die anthroposophische Heilpädagogik, da seine Tochter sich in entsprechender Betreuung befand. »Heilpädagogik und Sozialtherapie waren die frühen Standbeine der Anthroposophie in Israel«, betont Ron Eilon, der in Jerusalem zu deren Geschichte forscht.
Inzwischen gibt es einige anthroposophische Einrichtungen in Israel, darunter um die 70 Waldorfschulen und -kindergärten oder das biodynamisch bewirtschaftete Kibbutz Harduf. Die anthroposophische Szene in Israel scheint überwiegend aus dem Hiloni-Teil der Bevölkerung zu kommen, aber es kam sogar zur selektiven Übernahme von Waldorf-Materialien in vereinzelten Haredi-Einrichtungen. Wissenschaftliche Forschung über Anthroposophie ist in Jerusalem und Beer Sheva derzeit besser verankert als an deutschen Universitäten. Auch die kritischen Diskussionen haben längst Einzug gehalten, spätestens seit der vormalige Waldorf-Ausbilder Israel Koren 2019 das erste hebräische Buch über Steiners Antisemitismus vorgelegt hat.
Schon Müller und Bergman haderten mit den antisemitischen Positionen Steiners und seiner Fans. 1945 schrieb Müller an den Vorsitzenden der Anthroposophischen Gesellschaft, »das höllische Blendlicht des Nazitums« habe »durch viele Jahre auch Anthroposophen nicht unberührt gelassen«, und »von einer bewussten und freien Abkehr« sei wenig zu merken, während viele jüdische Anthroposophen sich von ihrem »Karma« distanzieren wollten.
Der Anthroposophieforscher Eilon hat gezeigt, wie unterschiedlich die frühen israelischen Anthroposophen mit diesem Erbe umgingen. Einige fokussierten sich ganz auf die praktische Handhabe etwa der Heil- und Waldorfpädagogik. Andere, so Eilon, »interpretierten den Staat Israel als Schmelztiegel für Juden aus aller Welt, der Steiners Forderung realisierte, Kollektive zugunsten eines modernen Individualismus zu überwinden«. So konnte paradoxerweise Israel als Verwirklichung von Steiners Forderung nach Akkulturation erscheinen.
Noch heute liebäugeln Anthroposophen mit Verschwörungsideologien
Während der Corona-Pandemie sympathisierten so einige deutsche Anthroposophen mit verschwörungsideologischem Unsinn. Dagegen hat sich die antisemitische Hetze seit dem 7. Oktober 2023 in der anthroposophischen Literatur – vorläufig und relativ – wenig niedergeschlagen. Freilich wurde in der rechtsanthroposophischen Basler Zeitschrift Der Europäer spekuliert, »das israelische Auftreten gegenüber den Palästinensern« sei »vielleicht« ein »Ausgleich des jüdischen Volkskarmas«, das heißt: Das Schicksal habe die lange Verfolgten nun ›vielleicht‹ zum ›Ausgleich‹ auch mal als ›Täter‹ inkarniert. In der Aprilausgabe 2024 der Zeitschrift Die Drei verbat sich dagegen Udi Levy, der die anthroposophische Lebensgemeinschaft Kfar Rafael bei Beer Sheva mitgegründet hat und inzwischen in der Schweiz lebt, okkulte Spekulationen zu 7. Oktober und Gazakrieg. Er forderte, stattdessen praktisch im Sinne des »Weltgeistes« zu handeln.
Eilon zufolge steht »der größte Teil« der israelischen Szene »kritisch« zur Netanyahu-Regierung und sympathisiert mit den Geisel-Protesten, der Krieg werde unterschiedlich bewertet. Damit ist eine Bewegung aus dem okkulten Milieu des deutschen Kaiserreichs in den tagesaktuellen Kämpfen der israelischen Politik angekommen – nicht die einzige bemerkenswerte Geschichte aus der Globalisierung der Anthroposophie seit Steiners Tod vor 100 Jahren.