In der schwersten Krise des Rüsselsheimer Autobauers Opel im Jahr 2009 wurde der scheidende Berliner Finanzsenator und ehemaliges Mitglied des Vorstands der Deutschen Bahn, Thilo Sarrazin (damals noch SPD-Mitglied), gefragt, ob er eine staatliche Unterstützung des Konzerns befürworte. »Einen Opel braucht niemand. Das werden die Autofans unter ihnen sicher bestätigen«, antwortete der Volkswirt.
Für derart markige Bonmots war er lange Zeit Darling vieler, die er jetzt in seinem neuen Buch Deutschland auf der schiefen Bahn. Wohin steuert unser Land? gern unter der Bezeichnung »etablierte Medien« subsumiert und denen er – zusammen mit dem allgemeinen Hassobjekt öffentlich-rechtlicher Rundfunk – ein »häufig gleichgeschaltetes Weltbild« attestiert, das »links beziehungsweise linksliberal« orientiert sei und versuche, »die Öffentlichkeit, so weit sie ihnen zugänglich ist, in ihrem Sinn zu erziehen, etwa zu sexueller Diversität und gendergerechter Sprache«.
Platz-1-Hirsche in Buchform
Mit dem eingangs erwähnten Opel-Zitat verhält es sich wie mit Sarrazins Medien-»Analyse« und fast allen griffigen Thesen des Bestseller-Autors: Das kann man so sehen – muss es aber nicht. Sein Standing begründet sich auf das 2011 erschienene Buch Deutschland schafft sich ab sowie weitere Platz-1-Hirsche in Buchform, womit er »nicht überall auf Gegenliebe gestoßen« sei, womöglich, weil ihn seine Partei 2020 ausgeschlossen hat.
In seinem neuen Buch stellt er fest, dass er seine 2011 getroffenen »Analysen« etwa bezüglich der demografischen Entwicklungen bei Weitem übertroffen sieht.
In seinem neuen Buch stellt er fest, dass er seine 2011 getroffenen »Analysen« etwa bezüglich der demografischen Entwicklungen bei Weitem übertroffen sieht, und begründet dies mit einem weltweiten Trend, der sich auch in Israel zeige: »So zeichnet sich unter der jüdischen Bevölkerung Israels ab, dass die kinderreichen orthodoxen Juden bald die Mehrheit haben werden, mit entsprechenden Folgen für die Ausrichtung der gesamten Gesellschaft. In vielen europäischen Ländern mit großen islamischen Minderheiten führt deren überdurchschnittlicher Geburtenreichtum dazu, dass in mehr und mehr Stadtvierteln und ganzen Regionen Muslime zumindest unter den Kindern und Jugendlichen zur Mehrheit werden.«
»Analyse« in Anführungszeichen, weil der Autor den Terminus massenhaft gebraucht
Das Wort »Analyse« in Anführungszeichen auch deshalb, weil der Autor den Terminus massenhaft gebraucht. Das klingt wissenschaftlich, aber er unterlegt seine zahlreich aufgestellten und mantraartig wiederholten Thesen trotz stattlichen Registers nur mangelhaft.
Dagegen wird etwa »die Politik« in überraschende Bilder übersetzt, in »Ebbe und Flut«, ein »Fußballspiel«, in dem auch mal die schwächere Mannschaft gewinnen könne, oder in einen Irrgarten. »Die Zukunft ist wie ein Labyrinth: Wenn die gewählte Tür verschlossen ist, muss man eine andere Tür wählen, oder man wird gar durch diese gestoßen, dort tun sich wieder Alternativen auf. Dieser Gedanke lässt sich auf alle klassischen Felder der Politik anwenden. Das tue ich in diesem Buch (…).«
Und dieses ist ein Schwindel erregender (rein zufällige Formulierung) Parforceritt, der auf 328 Seiten über »Die Rolle des Zufalls in Politik und Geschichte«, »Voraussetzungen einer gelungenen Gesellschaft«, »Migration«, »Die Geschlechterfrage« oder »Die Rolle des Staates« führt und wieder in die zu Beginn postulierten »Analysen« mündet: Die Islamisten wie »bildungsferne Schichten« werden immer mehr, die Bio-Deutschen weniger und dümmer, die Energiewende entwertet den deutschen Kapitalstock, die Sozialausgaben nehmen fortlaufend zu, kriminell sind vor allem Ausländer, und »die durchschnittliche Allgemeinbildung gewählter Politiker nimmt dramatisch ab«.
Zumindest in dieser These blitzt er wieder auf, dieser apokalyptische Seher, der sich stündlich »Sorgen« macht um Deutschland, was man ihm glauben mag, aber im Labyrinth der sich auftuenden Türen auch anders interpretieren kann, zum Beispiel als Altersvorsorge.
Oder vereinfacht gesagt, ohne Beleg und als »unbedingte Leseempfehlung«: ein weiterer Thesenbrüller, der in keinem populistischen Waffenschrank fehlen sollte.
Thilo Sarrazin: »Deutschland auf der schiefen Bahn. Wohin steuert unser Land?«. Langen Müller, München 2024, 328 S., 26 €