Mit einem offenen Brief an die Bundeskanzlerin haben 60 deutsche und israelische Wissenschaftler und Kulturschaffende in der vorvergangenen Woche den Antisemitismusbeauftragten Felix Klein kritisiert und eine Debatte über die Bekämpfung des Antisemitismus angestoßen. Dabei ist nicht nur interessant, was sie schreiben. Interessant ist vor allem, was ihnen dabei entgeht.
Denn während sie ihre Sorgen und Erwartungen vortragen, geraten die Realität und empirische Forschungsbefunde über die jüdischen Perspektiven auf Antisemitismus in den Hintergrund.
»Besorgte Bürger« Zu Beginn des Briefs stellen sich die Unterzeichner als »besorgte Bürger« vor. Den Gegenstand haben ihre Sorgen einerseits in »der drohenden Annexion palästinensischer Gebiete durch Israel«, andererseits in der »Unterdrückung legitimer Kritik an der israelischen Regierungspolitik« in Deutschland. Ihnen geht es also um »Israelkritik« und um den Umgang damit.
Die »Israelkritik« dient lediglich der Ummantelung des Briefs, im Schlussabsatz wird die Sorge vor der »drohenden Annexion« ohne Begründung schlicht in eine Erwartung an die Bundesregierung überführt, sich dagegen einzusetzen.
Der Hauptteil des Briefs arbeitet sich an der angeblichen »Unterdrückung der Israelkritik« ab. Diese sei auf einen »inflationären, sachlich unbegründeten und gesetzlich unfundierten Gebrauch des Antisemitismus-Begriffs« zurückzuführen. Der »Antisemitismusvorwurf« werde als Instrument ins Feld geführt, um unliebsame »Israelkritiker« »zu brandmarken« und »mundtot zu machen«.
Beispiel Der nicht namentlich benannte Antisemitismusbeauftragte Felix Klein unterstütze dies und werde seiner Aufgabe damit nicht gerecht, da er vom »realen« Antisemitismus und seinen »tatsächlichen« Gefahren ablenke.
Als Beispiel dafür wird lediglich die Förderung eines Buchs über den gegenwärtigen Antisemitismus des in einem israelischen Ministerium beschäftigten Autors Arye Sharuz Shalicar benannt, in dem dieser die Ansichten eines als verdienten Friedensaktivisten eingeführten »Israelkritikers« als antisemitisch bezeichnet.
Dass die im Brief erhobenen Vorwürfe an der Realität vorbeigehen, belegt schon das Beispiel, das als Nachweis einer missbräuchlichen, populistischen und nicht »faktengestützten« Verwendung des Antisemitismusbegriffs, ihrer vermeintlichen Wirkmächtigkeit und Unterstützung durch den Antisemitismusbeauftragen gelten soll. Besonders deutlich tritt der Kontrast zur Realität in der Wahrnehmung hervor, »legitime Kritik« an der israelischen Regierung werde unterdrückt.
Kritik Dies ist schlicht nicht der Fall, weder in Israel noch in Deutschland. Niemandem, der eine sachlich begründete, gegenstandsbezogene Kritik an der israelischen Regierung formuliert, wird Antisemitismus unterstellt. Die verzerrte Wahrnehmung muss also daraus resultieren, was als »legitime Kritik« gilt.
Und hier definieren die Unterzeichner den Antisemitismus so, dass seine gegenwärtig dominierende, stets als »Kritik« legitimierte Erscheinungsform mit Israelbezug außen vor gelassen wird. Diese »Israelkritik« ist nicht nur nachweislich nicht tabuisiert. Im Gegenteil, sie ist in den Einstellungsmustern und Medien weit verbreitet. Sie bringt Menschen opponierender politischer Identitätsentwürfe und Gruppen zusammen, in manchen Kreisen dient sie gar als »Visitenkarte« gesellschaftlichen Engagements.
Für die Verfasser scheint es gegenüber Israel grundsätzlich nur »legitime Kritik« zu geben.
Die entschiedene Kritik und Ächtung des israelbezogenen Antisemitismus kommen unter keinen Umständen der Unterdrückung einer »legitimen Kritik« gleich. Damit wird lediglich die Ächtung des Antisemitismus als Leitwert der demokratischen Gesellschaft in der Praxis eingelöst und ein glaubhaftes Engagement gegen all seine Manifestationen gezeigt. Genau das ist die Aufgabe eines Antisemitismusbeauftragten, genau das hat Felix Klein in der Vergangenheit gezeigt.
VORWÜRFE In dem offenen Brief wird der Fokus vom Antisemitismus also auf den »Antisemitismusvorwurf« verschoben. Dass Letzterer, aber nicht Ersterer als »menschenverachtend« und mit einer »Stimmung der Brandmarkung, Einschüchterung und Angst« beschrieben wird, zeugt im günstigsten Fall von einer Realitätsverweigerung.
Man erstrebt, sich gegen ein Kritikverbot zu wehren, das es nicht gibt, um aus einer selbstheroisierenden Pose heraus, nach eigenem Ermessen der Gerechtigkeit und einer besonderen historischen Verantwortung verpflichtet, das Recht auf »Israelkritik« für sich und andere zu erstreiten, obwohl diese in Deutschland weit verbreitet und häufig vorgetragen wird, ja mitunter zum guten Ton gehört. Gleichermaßen wird jeglicher Widerspruch als willkürlicher Vorwurf oder »Unterdrückung« gedeutet, um aus dem Popanz einer Drohkulisse gar einen »gesetzlich unfundierten« Antisemitismusbegriff dort zu erkennen, wo er den israelbezogenen Antisemitismus umfasst.
Dem steht die Realität gegenüber, in der etwa ein Gericht in Deutschland 2014 einen Anschlag auf eine Synagoge nicht als antisemitisch, sondern als Protest gegen Israel bewertet hat. Der tatsächlich mangelhaften gesetzlichen Fundierung des Antisemitismusbegriffs, die eben auf der fehlenden Anerkennung und Bagatellisierung des israelbezogenen Antisemitismus basiert, wäre einfach beizukommen, indem die Definition der International Holocaust Remembrance Alliance einen rechtlich bindenden Charakter erhielte.
In der Öffentlichkeit verbergen viele Betroffene jüdische Symbole aus Sorge davor, als Repräsentant Israels wahrgenommen und angegriffen zu werden.
Hinter dieser Realitätsverweigerung verschwinden der Antisemitismus und seine Auswirkungen auf Juden in Deutschland, sie drückt eine Ignoranz gegenüber den Betroffenen und der Tatsache aus, 75 Jahre nach der Schoa als Jude in Deutschland häufig nicht ohne Angst vor Angriffen leben zu können. Wie Juden in Deutschland mit israelbezogenem Antisemitismus konfrontiert werden und was das für ihre gesellschaftliche Teilhabe und ihre jüdische Identität langfristig bedeutet, gerät dergestalt aus dem Blick.
ANGRIFFE Einen Eindruck davon vermitteln Forschungsbefunde über die Antisemitismuserfahrungen von Juden in Deutschland. Sie werden mit Bezug auf Israel häufig in eine Repräsentationsrolle gedrängt und für tatsächliche oder vermeintliche Sachverhalte oder Handlungen verantwortlich gemacht.
Als vermeintliche Repräsentanten Israels werden sie mit mittelalterlichen Feindbildern über Juden konfrontiert, aber auch mit der Erwartung, sich von Israel zu distanzieren, beleidigt oder gar angegriffen. Man überlegt etwa zweimal, gegenüber einem Unbekannten zu erwähnen, dass man jüdisch ist, weil man nicht zum wiederholten Male in eine Diskussion über den Nahostkonflikt verwickelt werden oder die Frage, »was denn Netanjahu da macht«, beantworten will. In der Öffentlichkeit verbergen viele Betroffene jüdische Symbole aus Sorge davor, als Repräsentant Israels wahrgenommen und angegriffen zu werden.
Schulkindern wird von ihren Mitschülern entgegengebracht, dass man sie hasse, da sie aus Israel kommen, dass Israelis Schlangen oder Nazis oder dass Juden »scheiße« seien, da israelische Soldaten Kinder essen würden. Von manchen Lehrern hören sie ähnliche Dämonisierungen, nur indirekt so formuliert, dass sie ins Muster einer akzeptierten »Israelkritik« passen.
Hass Die Betroffenen machen deutlich, dass sie nicht wissen, aus welcher Gruppe, ob links, rechts, aus der Mitte, christlich oder muslimisch, jung oder alt, bildungsfern oder intellektuell, sie als Nächstes mit diesem Antisemitismus konfrontiert werden. Israelhass kommt aus verschiedensten Richtungen, ist aber unter Muslimen gegenwärtig weit und in einer aggressiven Form verbreitet und gehört zur Ideologie rechts- und linksextremistischer sowie islamistischer Organisationen.
Der israelbezogene Antisemitismus stellt also eine häufig unkalkulierbare Bedrohung für Juden in Deutschland dar. Das belegen nicht nur Erfahrungen aus dem Alltag der Betroffenen, sondern auch antiisraelische Demonstrationen der vergangenen Jahre, auf denen zu Gewalt gegen Juden aufgerufen, die israelische Fahne verbrannt oder die Vernichtung Israels gefordert wurde.
Immer wieder äußern die Betroffenen ihre Enttäuschung darüber, dass der israelbezogene Antisemitismus nicht erkannt oder als »legitime Israelkritik« bagatellisiert wird und dass die meisten Menschen darauf nicht reagieren und ihn so stillschweigend tolerieren. Jede Positionierung gegen und Ächtung des israelbezogenen Antisemitismus durch couragierte Bürger, aber besonders durch den Antisemitismusbeauftragten und die Regierung wird von vielen Juden im Kontext ihrer Sorgen bezüglich der Zukunft jüdischen Lebens in Deutschland hoffnungsvoll und dankbar angenommen.
Es bleibt zu hoffen, dass das auch die 60 Unterzeichner des offenen Briefs einsehen. Dann würden sie sich der Realität etwas annähern und bemerken, dass man aktuell über Antisemitismus sprechen muss, nicht aber über »unberechtigte Antisemitismusvorwürfe«.
Die Autorin ist Professorin für Soziologie an der Frankfurt University of Applied Sciences und untersucht Antisemitismus an deutschen Schulen aus der Betroffenenperspektive.