Im Sommer des vergangenen Jahres brannten überall im Mittelmeerraum die Wälder. In Algerien waren die Schuldigen schnell gefunden: Eine berberische Unabhängigkeitsbewegung, die Bewegung für die Selbstbestimmung der Kabylei (MAK, Mouvement pour l’Autodétermination de la Kabylie), habe die Brände absichtlich gelegt, und zwar in einer überraschenden Allianz mit lokalen Islamisten, dem benachbarten Marokko und dem Staat Israel, von der algerischen Präsidentschaft umschrieben als »zionistisches Gebilde«.
Israels Unterstützung der Kurden im irakisch-kurdischen Konflikt wirkt bis heute nach.
Verschwörungstheoretische Spekulationen über eine heimliche Allianz zwischen Israel und den nicht-arabischen (Kurden, Berber) oder den nicht-muslimischen Minderheiten (Drusen, Maroniten) des Nahen Ostens haben in der arabischen Welt eine etablierte Tradition: Auch im Fall des gescheiterten Unabhängigkeitsreferendums in der Kurdischen Region des Irak (2017) war die Sorge vor einem »zweiten Israel« so groß, dass irakische Truppen in das ölreiche Kirkuk einmarschierten und so dem kurdischen Wunsch nach Teilunabhängigkeit fürs Erste ein Ende setzten.
Autonomie Aber was erklärt diese Gleichsetzung zwischen dem vermeintlichen »äußeren Feind« (Israel) und dem »inneren Feind«, also kurdischen Autonomiebewegungen im Nahen Osten und berberischen Autonomiebewegungen in Nordafrika? Und welche Querverbindungen bestehen tatsächlich zwischen diesen Nationalbewegungen, die sich für jüdische Selbstbestimmung im Land Israel/Palästina, für ein freies Kurdistan oder für sprachlich-kulturelle Autonomie in Tamazgha, dem »Land der Freien« (so die berberische Selbstbeschreibung Nordafrikas), einsetzen? Drei Verbindungslinien sollen hier diskutiert werden – der geostrategische »Bund der Minderheiten«, das Kulturerbe der kurdischen und berberischen Juden und schließlich die zionistische Bewegung als umstrittenes Vorbild.
Angesichts der israelischen Enklaven-Situation im Herzen der arabischen Welt lässt sich erstens eine lange Geschichte der jüdisch-israelischen Faszination für all jene nahöstlichen Minderheiten aufzeigen, die sich ebenfalls für ihre Selbstbestimmung einsetzten: Unter Ben Gurions Führung wurde die »Allianz der Peripherie« mit den nicht-arabischen Staaten der Region (Türkei, Iran, Äthiopien) bewusst durch eine »Allianz der Minderheiten« ergänzt (irakische Kurden, libanesische Maroniten, christliche Gruppen im Südsudan).
Die israelische Unterstützung für die kurdische Seite in den irakisch-kurdischen Auseinandersetzungen (1961–1975) wirkt bis heute nach: Damals kam der irakische Kurdenführer Mustafa Barzani zu Besuch nach Israel, israelische Militärberater unterstützten seine Guerilla-Einheiten – und als Ausdruck der kurdisch-israelischen Verbundenheit schenkte Barzani dem damaligen Mossad-Chef Meir Amit einen jungen Bären, der anschließend dem Zoo Tel Aviv übergeben wurde.
Verbindung Zweitens besteht eine Verbindungslinie durch das Kulturerbe der berberischen und der kurdischen Juden: Für Dihya (arabisch: al-Kahina), die mythologische Anführerin des Berber-Widerstandes gegen die arabischen Heere im Nordafrika des 8. Jahrhunderts, wird bisweilen eine jüdische Abstammung postuliert; bis in die Gegenwart waren wichtige jüdische Gruppen des Maghreb berbersprachig, sowohl im marokkanischen Atlas als auch in der algerischen Mzab-Region.
Auch in der Geschichte Kurdistans gab es wichtige jüdische Gemeinschaften, die teilweise Kurdisch und teilweise Aramäisch sprachen: Als Ausdruck ihrer Verbundenheit mit dem kurdischen Erbe feiern die kurdischen Israelis mit dem Saharane-Fest bis heute eine jüdische Variante des Frühjahrsfestes Newroz, auch wenn dieses inzwischen im Herbst stattfindet. Die kurdischen Juden verteilen sich dabei über das ganze politische Spektrum, von den rechtszionistischen Milizen der Mandatszeit, Moshe Barazani, bis zum zentristischen Sprecher der derzeitigen Knesset, Mickey Levy, von der linkszionistischen Meretz-Partei (Mossi Raz) bis zur rechtsextremen Splitterpartei Otzma Yehudit (Itamar Ben-Gvir).
VORBILD Drittens wird die zionistische Bewegung in vielen staatslosen Gemeinschaften – nicht nur im kurdischen oder berberischen Fall – als ein umstrittenes Vorbild diskutiert: Der zionistischen Bewegung gelang es, eine Sprache wiederzubeleben, ein alt-angestammtes Heimatland zurückzuerobern und dort eine in vielerlei Länder zerstreute Diaspora zu versammeln – warum sollte ein solches Projekt nicht auch im Fall von Kurdistan oder Tamazgha gelingen?
Der zionistischen Bewegung gelang es, die in alle Welt verstreute Diaspora zu versammeln.
Der Blick auf den Staat Israel und den Zionismus bleibt dabei aber ambivalent: Der eigene Weg von der Staatslosigkeit in die Selbstbestimmung wird häufig anhand der palästinensischen Geschichte gelesen; die kurdischen Linksparteien sind meist keine besonderen Freunde des zionistischen Projekts – und gerade die PKK wurde nicht nur vom Vorbild der PLO inspiriert, sondern tatkräftig in palästinensischen Guerilla-Lagern ausgebildet.
Die Querverbindungen zur Geschichte des zionistischen Projekts drängen sich dennoch auf: In allen drei Fällen erheben die jüdische, die kurdische und die berberische Nationalbewegung einen Anspruch auf Indigenität und verstehen sich damit als die eigentliche und ursprüngliche Bevölkerung eines bestimmten Territoriums, lange vor der europäischen Besiedlung – aber auch lange vor der arabischen oder türkischen Eroberung.
ANSPRUCH Dieser politische Anspruch auf ein angestammtes Territorium steht dabei in einer klaren Spannung zu einer langen Geschichte der Staatslosigkeit, meist in Form von lokaler Autonomie oder diasporischer Selbstorganisation. Selbstbestimmung wird in allen drei Fällen nicht nur politisch oder militärisch verstanden, sondern in erster Linie als eine kulturelle Rückbesinnung: Gerade im Bereich der Sprachpolitik lassen sich klare Parallelen zwischen der zionistischen Kulturarbeit und ihren kurdischen beziehungsweise berberischen Entsprechungen aufzeigen.
So wie die ersten Schritte zur Wiederbelebung des Hebräischen nicht im Land Israel/Palästina stattfanden, sondern in der europäisch-jüdischen Diaspora, so entstanden auch die Symbole des modernen Berber-Nationalismus (wie das Neo-Tifinagh-Alphabet) nicht im Maghreb, sondern in Frankreich.
Die klassisch-zionistische Verbindung zwischen Rückbesinnung und Modernisierung zeigte sich dabei nicht zuletzt in einer aktiven Erneuerung der hebräischen Sprache, um die jüdisch-israelische Nation sprachfähig zu machen – und auch im kurdischen Fall erleben wir eine groß angelegte Kampagne, um einen eigenständigen kurdischen Denkraum zu erschaffen: Türkische oder arabische Lehnwörter werden zunehmend ersetzt durch neu geschaffene kurdische Wörter, vom »Lernarbeiter« (xwendekarê, also: Student) bis zum »Denkort« (zanîngeh, also: Universität).
Irak Aber die engste Verbindung zwischen der jüdischen und der kurdischen Geschichte zeigt sich vielleicht in der aktiven Gedächtniskultur: In der Kurdischen Region des Irak ist die Erinnerung an die genozidale Anfal-Kampagne (1986–1989) des Ba’th-Regimes unter Saddam Hussein noch sehr frisch.
Der Architekt Daniel Libeskind entwirft das kurdische Nationalmuseum in Erbil.
Staatliche und zivilgesellschaftliche Einrichtungen ringen mit der Frage, wie mit dem Gedächtnis an Vertreibung, Massenmord und Vergasung umgegangen werden soll, aber die ersten Museen sind bereits entstanden, darunter Amna Suraka (das »rote Sicherheitsgefängnis«), das ehemalige Hauptquartier des irakischen Sicherheitsapparats in Silêmanî (Sulaimaniyya).
In Erbil soll zudem ein kurdisches Nationalmuseum entstehen – und nicht zufällig ging dabei der Auftrag an Daniel Libeskind, den Architekten des Jüdischen Museums in Berlin: Das Museum soll aus vier Teilen bestehen, genauso wie das historische Kurdistan durch moderne Nationalstaaten in vier Regionen zerteilt wurde; durchzogen von zwei Linien – einer Anfal-Linie und einer Freiheits-Linie.
Bei seinem Besuch in Erbil war Libeskind sichtlich beeindruckt: »Ich habe Anfal-Opfer getroffen, und sie ähneln meinem eigenen Hintergrund. Ich musste gar nicht so viel über die Kurden recherchieren – es war bereits in meinem Herzen.«
Der Autor ist Professor für Israel- und Nahoststudien an der Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg (HfJS) und Leiter der Forschungsgruppe »Die Sammlung der Verstreuten«.