Wenn Sharon Moalem über körperliche Malaisen und krankhafte genetische Veranlagungen spricht, dann ist es für ihn keine graue Theorie, sondern tägliche Realität. »Ich würde innerlich zu Tode rosten, wenn der Eisengehalt meines Blutes nicht regelmäßig, etwa durch Aderlass, gesenkt werden würde«, erklärt er mit einem Lachen. Schließlich leidet der 40-jährige Amerikaner an Hämochromatose, einem chronischen Leiden, bei dem es zu einer drastisch erhöhten Aufnahme von Eisen im oberen Dünndarm kommt. Dadurch steigt der Eisengehalt im Körper an, und langfristig werden Organe wie Leber und Bauchspeicheldrüse geschädigt.
Moalem ist nicht der Erste in seiner Familie, der daran erkrankte. »Als mein Großvater in Israel, ein Holocaust-Überlebender, 71 Jahre alt wurde, bildeten sich auf seiner Haut zahlreiche rotbraune Flecken – ein deutliches Indiz für diese Eisenspeicherkrankheit«, berichtet er. »Gleichzeitig diagnostizierte man bei ihm auch Alzheimer.«
Sharon Moalem war damals gerade 15 Jahre alt; doch schon als Teenager begann er, sich die Frage zu stellen, ob zwischen beiden Krankheiten nicht vielleicht ein Zusammenhang bestehen könnte. Er verschlang in Bibliotheken alle zur Verfügung stehende Literatur über Alzheimer und Hämochromatose. »Das war meine Art, mit dieser Situation fertig zu werden«, erinnert er sich. »Denn ich stand meinem Großvater, der nun nicht mehr regelmäßig aus Israel zu Besuch kommen konnte, sehr nahe.«
Alzheimer Das Thema faszinierte Moalem weiterhin, und so begann er, an der University of Guelph im kanadischen Ontario mit dem Studium der Biologie und Kunstgeschichte. Nach seinem Abschluss ging Moalem für einige Jahre nach Thailand und arbeitete dort in einem Waisenhaus. Zu Hause aber waren mittlerweile auch bei zwei Großonkeln beide Krankheiten ausgebrochen. »Ich habe überall auf der Welt nach Fachleuten gesucht, die sich für meine These empfänglich zeigen würden.« So kam er in Kontakt mit Marie Percy von der University of Toronto, die bereits seit einigen Jahren eine ähnliche Spur verfolgt hatte und über einen großen Fundus gefrorener Blutproben von Alzheimerpatienten verfügte.
Gemeinsam nahmen sie diese unter die Lupe und erkannten letztendlich eine Verbindung. »Natürlich war alles viel komplizierter als auf den ersten Blick«, erinnert sich Moalem. Der Zusammenhang ist nämlich nur gegeben, wenn die Veranlagung für Hämochromatose in Kombination mit einem weiteren Gen mit der Bezeichnung APOE-4 auftritt, das offensichtlich für einen erhöhten Cholesterinspiegel im Gehirn verantwortlich ist.
Nach seinem 30. Geburtstag entwickelte Moalem selbst die rotbraunen Flecken auf der Haut, die er nur allzu gut von seinem Großvater kannte. Aber trotz des Wissens um eine erhöhte Wahrscheinlichkeit, ebenso wie andere Familienmitglieder nach Hämochromatose auch an Alzheimer zu erkranken, blieb der Evolutionsmediziner weiterhin guter Laune.
Denn hinter diesem Defekt vermutete er auch einen Nutzen. »Irgendwie schien mir das Ganze doch sehr mysteriös. Rund 30 Prozent aller Europäer haben eine Kopie genau dieses Gens im Körper, das Hämochromatose auslösen kann. Damit handelt es sich um die häufigste Mutation unter Menschen mit europäischen Wurzeln überhaupt. Warum nur bei ihnen und nicht bei anderen auf der Welt?«
Schutz Die Antwort auf diese Frage fand Moalem bei Genetikern, die annahmen, dass das spezifische Gen, das den Webfehler in der Erbanlage für Eisenspeicherung auslöst, erstmals vor rund 60 bis 70 Generationen auftauchte – und zwar zu einer Zeit, als in Europa die Beulenpest wütete. Nun hatte Moalem einen Verdacht. Schließlich liebt der Pesterreger eine eisenreiche Umgebung und vermehrt sich daher vorzugsweise in den Makrophagen, den sogenannten Fresszellen. Aber bei Personen mit Hämochromatose sind diese paradoxerweise sehr eisenarm, sodass sie besser vor der Beulenpest gefeit waren als andere. Damit war ihr Überleben wahrscheinlicher – aber auch die Weitergabe der Krankheit an Kinder und Kindeskinder.
Daraus entwickelte Moalem die These, die er in seinem Buch Survival of the Sickest (Das Überleben der Kränksten) auf den Punkt brachte: Defekte, die ein Leiden auslösen können, verbessern zugleich die Überlebenschancen bei anderen, oftmals lebensbedrohenden Krankheiten. »Mukoviszidose ist ein weiteres gutes Beispiel dafür«, so Moalem. Träger einer defekten Variante des Gens, welches dieses schwere Lungenleiden verursacht, scheinen deutlich besser vor Typhus geschützt.
Auf Basis seiner Erkenntnisse gründete der findige Evolutionsmediziner, der schon 19 Patentanmeldungen verzeichnen kann, zwei erfolgreiche Biotech-Start-ups, die sich mit Therapien für seltene Krankheiten beschäftigen.
Zwillinge »Manchmal ist sogar nur eine einzige Generation notwendig, um genetische Eigenschaften nachhaltig zu verändern«, erklärt Moalem und verweist auf jüngste Forschungsergebnisse unter eineiigen Zwillingen, die erstmals im Alter von fünf Jahren untersucht wurden und dann wieder als Teenager.
»Einer der Zwillinge etwa wurde in der Zwischenzeit regelmäßig in der Schule gemobbt«, berichtet Moalem. Daraufhin konnte bei ihm bereits nach wenigen Jahren eine Veränderung jenes Gens beobachtet werden, das für die Kodierung eines Proteins verantwortlich ist, welches wiederum hilft, den Neurotransmitter Serotonin in die Nervenzellen zu transportieren.
»In Situationen, die als unangenehm empfunden werden, wie beispielsweise eine freie Rede zu halten oder einen Mathetest zu schreiben, war seine Ausschüttung an Stresshormonen niedriger als bei seinem Zwillingsbruder, der keine demütigenden Erfahrungen machen musste. Auch hier stehen Negatives und Positives in einem direkten Zusammenhang.«