Die Gratulation kam per Luftpost aus Rio de Janeiro. Dort hatte Martin Stock am Radio das Weltmeisterschaftsfinale im Wankdorfstadion zu Bern verfolgt. »Aus vollem Herzen bringe ich Ihnen und Ihrer grossartigen Mannschaft meine aufrichtigen Glueckwuensche dar«, schrieb er am 7. Juli 1954 an Sepp Herberger, den er »in alter Anhaenglichkeit« grüßte.
Martin Stock lebte, finanziell unterstützt von seinem jüngsten Bruder, seit Ende 1950 in Brasilien. Dort wollte er den Neuanfang nachholen, der ihm nach dem Krieg verwehrt geblieben war. Die Auswanderung änderte nichts an seiner Heimatverbundenheit. Dabei hätte Stock unzählige Gründe gehabt, Deutschland den Rücken zu kehren.
Denn der 1892 in Hamburg geborene Martin Stock war Jude –und Jude wollte er bleiben, auch wenn er davon nicht viel Aufhebens machte. Sein Lebensziel bestand darin, als jüdischer Deutscher akzeptiert zu werden. Dabei sollte ihm der Sport helfen, dem er sich von früher Jugend an verschrieb, anfangs als Schlagballspieler, später als leidenschaftlicher Fußballer.
patriot Im August 1914 trat Martin Stock, der seinen zweiten Vornamen Abraham meist unterschlug, erstmals in Vorleistung: Er zog in den Krieg, vielleicht nicht mit überschwänglicher Begeisterung, wohl aber in der Hoffnung, mit diesem Dienst fürs Vaterland der gesellschaftlichen Akzeptanz ein Stück näherzukommen. Die »Judenzählung« im deutschen Heer 1916 holte ihn auf den Boden der Tatsachen zurück.
Die deutsche Niederlage von 1918 empfand der Frontsoldat Martin Stock als schmerzlich. Aus der Bahn warf sie ihn aber nicht. Republik und Demokratie begegnete er aufgeschlossen. Sie schienen ihm bessere Möglichkeiten zu bieten, als normaler Deutscher anerkannt zu werden.
Stock stürzte sich in den Sport. Er engagierte sich in seinem Verein, der Altonaer Spielvereinigung von 1895, als Spieler und als Vorstandsmitglied. Auf Verbandsebene galt es, einen möglichst reibungslosen Spielbetrieb zu organisieren, angesichts der sprunghaft gestiegenen Popularität des Fußballs keine einfache Aufgabe. Darüber hinaus wurde Stock ein bekannter und angesehener Schiedsrichter.
Volle Akzeptanz bedeutete das allerdings nicht. Denn auch im Sport, unter Aktiven wie Funktionären, fanden sich Antisemiten. Martin Stock pflegte einen kollegialen Umgang selbst mit jenen, die aus ihren antijüdischen Ressentiments keinen Hehl machten. Allerdings bemühte er sich im Nord- deutschen Fußball-Verband nicht um Wahlämter. Möglicherweise befürchtete er, ihm könnten die Grenzen der erreichten Akzeptanz aufgezeigt werden.
Den Erfolgen im Sport standen Rückschläge im Beruf gegenüber. Die Firma seines Vaters, die Martin Stock nach dessen Tod weiterführte, ging in der Weltwirtschaftskrise bankrott. Ein mithilfe seiner Geschwister eingerichtetes Nachfolgegeschäft musste Martin Stock im Frühjahr 1933 aufgeben. Ein Jahr arbeitete er als Handelsvertreter für einen Stoffgrossisten. Als die jüdischen Inhaber emigrierten, stand Martin Stock endgültig auf der Straße. Fortan lebte er von der karg bemessenen öffentlichen Fürsorge.
kaltgestellt Die nach dem Machtantritt der Nationalsozialisten beginnende Ausgrenzung der Juden umfasste bald auch den Sport. Der Norddeutsche Fußball-Verband stellte Martin Stock umgehend kalt. Als Schiedsrichter kam er nicht mehr zum Einsatz, und die erwartete Nominierung für internationale Begegnungen unterblieb. Immerhin hielt die Altonaer Spielvereinigung lange an ihrem jüdischen Vereinskameraden fest.
Martin Stock suchte nach Betätigungsmöglichkeiten, die er schließlich in der neu gegründeten »Sportgruppe Schild« des Reichsbundes jüdischer Frontsoldaten fand. Hier konnte er alle seine Fähigkeiten einbringen: als aktiver Fußballer, als Schiedsrichter und als Verwaltungsfachmann. Die Sportgruppe Schild bot ihm die zuletzt so schmerzlich vermisste Gemeinschaft – bis die Pogromnacht 1938 der Parallelwelt des jüdischen Sports im Dritten Reich ein jähes Ende setzte.
Stock verkannte die von den braunen Machthabern ausgehende tödliche Bedrohung. Anders als seine Geschwister konnte er sich nicht rechtzeitig ins Ausland absetzen. Am 8. November 1941 wurden 969 Juden aus Hamburg in das Ghetto von Minsk deportiert. Acht von ihnen überlebten, darunter Martin Stock. Seine jahrelange Odyssee durch zahlreiche Zwangsarbeits- und Konzentrationslager endete am 15. April 1945, als britische Soldaten Bergen-Belsen befreiten.
Im Gegensatz zu vielen jüdischen Überlebenden entschied sich Martin Stock, in Deutschland zu bleiben. Er schaffte es aber nicht, das Trauma seines Martyriums offensiv anzugehen, sondern verdrängte die erlittenen Demütigungen und Brutalitäten ebenso wie das Leid, das er hatte mitansehen müssen. Fast übergangslos suchte er den Anschluss an die sich reorganisierende Sportbewegung.
Einmal mehr stellte er sich zur Verfügung, und einmal mehr trat er in Vorleistung: Bei der Feier zum 50-jährigen Bestehen der Altonaer Spielvereinigung gedachte er der gefallenen Vereinskameraden. Dass es Soldaten der Wehrmacht gewesen waren, die die Vernichtungsmaschinerie der Nazis in Betrieb hielten, kam ihm anscheinend nicht in den Sinn. Sich seiner ermordeten Schicksalsgefährten zu erinnern, wäre sehr viel naheliegender gewesen.
DFB-Vorstand Auf dem Höhepunkt seiner Nachkriegskarriere im Sport leitete Martin Stock den Spielausschuss des Deutschen Fußball-Bundes. In dieser Funktion gehörte er – als erster Jude – dem DFB-Vorstand an. Dass auf den Leitungsebenen des deutschen Fußballs Personen das Sagen hatten, die Mitläufer der Nazis gewesen waren oder als Sympathisanten, Parteigenossen oder sonst wie Beteiligte eine Mitschuld an der nationalsozialistischen Herrschaft trugen, darüber sah er hinweg. Ironischerweise half ihm dabei, dass der Verband von dieser Vergangenheit nichts mehr wissen wollte. Martin Stock fühlte sich anerkannt, das allein war ausschlaggebend.
Doch diese Anerkennung blieb unvollständig. Als Martin Stock sein Amt als Spielausschuss-Vorsitzender niederlegte, um nach Brasilien zu gehen, dankte ihm der DFB-Vorsitzende Peco Bauwens für seine »selbstlose und aufopferungsvolle Mitarbeit« beim sportlichen Wiederaufbau. Martin Stock sei den übrigen Vorstandsmitgliedern »ein lieber Kamerad«, gar »ein lieber Freund« geworden.
Die Würdigung galt einem um wichtige Teile seiner Biografie beraubten Menschen: Bauwens ließ unerwähnt, dass es sich bei Martin Stock um einen Juden und einen Verfolgten des NS-Regimes handelte. Auf diese Weise überging er das für Opfer des Nationalsozialismus Entscheidende: die Anerkennung, dass sie unendlich gelitten hatten. Martin Stock gehörte dazu, aber eben nicht ganz. Er gab sich damit zufrieden.
Arthur Heinrich hat im Göttinger Verlag Die Werkstatt in diesem Monat die Biografie »Als Jude im deutschen Fußball. Die drei Leben des Martin Abraham Stock« veröffentlicht (348 S., 29, 90 €)