Diese Berlinale ist nicht irgendeine. Sie hat nach fast 20 Jahren Dieter Kosslick eine neue Leitung und ganz im Trend der Zeit sogar eine Doppelspitze. Sie feiert in diesem Jahr ihren 70. Geburtstag mit einer garstigen Überraschung: Fast 25 Jahre lang bestimmte Alfred Bauer das Programm – einst SA-Mitglied und Referent der Reichsfilmintendanz. Das stieß bitter auf; ein nach Bauer benannter Preis wurde hastig entsorgt, alles wieder gut.
Die Programmauswahl erfolgte vor dem Skandal, und sie ist im Hinblick auf jüdische Themen so erwartbar wie enttäuschend. Unter den 340 ausgewählten Filmen gibt es gerade einmal ein Dutzend Produktionen mit dem Fokus auf jüdischer Identität, aber nicht eine einzige davon ist überraschend, anregend, irritierend.
Israel wird auf der Berlinale 2020 auf Schoa und Besatzung reduziert.
Beeindruckende Arbeiten zur Schoa, überdurchschnittlich viele sogar, aber sonst nur das Übliche. Und Israel? Das Land mit einer der florierendsten Filmindustrien weltweit, das Land, das zu den erfolgreichsten Produzenten von Fernsehserien gehört, das Land, das auf internationalen Festivals überproportional vertreten ist, wird auf der Berlinale 2020 reduziert auf Schoa und Besatzung, auf traumatische Vergangenheit und schuldbeladene Gegenwart.
MANIPULATION Etwa in dem Film The Viewing Booth von Ra’anan Alexandrowicz, der erneut seine spezielle Leidenschaft für das Thema Besatzung unter Beweis stellt. Schon in The Inner Tour (2001) und The Law in These Parts (2011) widmete er sich diesem Stoff. Sein filmisches Engagement für die Sache der Palästinenser brachte ihm schon mal Prügel von aufgebrachten Siedlern ein, aber das hält ihn nicht ab.
In The Viewing Booth hat er sich nun bei Videos der umstrittenen Menschenrechtsorganisation B’Tselem bedient. Er zeigt sie amerikanischen Studenten und filmt deren Reaktionen. Bilder können nicht lügen, sagt man, aber es hat sich mittlerweile herumgesprochen, dass das nur ein frommer Wunsch ist.
Spätestens nach dem Manipulationsskandal um die Reportage zum Tod des Palästinenserjungen Mohammed al-Dura wissen wir, dass Bilder nicht nur technisch übelst manipulierbar sind, sondern dass sie bestenfalls nur die halbe Wahrheit zeigen.
Erwachen Minyan (Panorama) ist das Spielfilmdebüt des Dokumentarfilmers Eric Steel über den 17-jährigen David, Sprössling einer russischen Emigrantenfamilie aus dem sehr jüdischen New Yorker Stadtteil Brighton Beach. David hilft familienergeben beim Minjan aus, um den Gottesdienst der Gemeinde nicht scheitern zu lassen. Aber David fremdelt zunehmend mit den strengen Regeln der Gemeinschaft und büchst irgendwann aus.
Eric Steel zeichnet ein sensibles Porträt einen schwulen, jüdischen Jugend.
Heimlich freundet er sich mit zwei alten Männern im East Village an, jüdisch und schwul, die sein sexuelles Erwachen begleiten, das aber in den dafür rauen 80er-Jahren in New York und in Zeiten von HIV und Aids nichts Berauschendes hat, sondern viel Beklemmung und Angst auslöst.
Eric Steel, der 2006 mit seinem Dokumentarfilm The Bridge über die für Selbstmörder magisch anziehende Golden Gate Bridge in San Francisco bekannt wurde, zeichnet in Minyan ein sensibles Porträt einer schwulen, jüdischen Jugend, als Pride-Paraden noch keine Massenevents waren und Gender-Debatten in weiter Ferne lagen.
ARCHIV Der 75. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz bildet sich bei der Berlinale auf eine eher klassische Weise ab. Gleich zwei Filme werden der archivarischen Vergessenheit entrissen. Ostatni etap (Die letzte Etappe) aus dem Jahr 1948 ist der erste Spielfilm der Filmgeschichte, der das Überleben in Auschwitz zum Thema hat.
Die Dokumentarfilmerin Wanda Jakubowska, selbst eine Überlebende des KZs, benutzt dabei Originalaufnahmen der Befreier und lässt ehemalige Insassen als Schauspieler auftreten. Der Film wurde zwei Jahre nach der Befreiung am Originalschauplatz gedreht.
Jetzt wird er in einer digital restaurierten Fassung zum ersten Mal wieder zu sehen sein. Am Ende fleht die Hauptdarstellerin Marta die sowjetischen Befreier an: »Erlaubt nicht, dass Auschwitz sich wiederholt!« Ein banger, ein traurig aktueller Wunsch.
Zum 75. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz gibt es einige Wiederentdeckungen.
Daleká cesta (Der weite Weg) von Alfréd Radok ist die zweite Wiederentdeckung. Radok war in einem Arbeitslager interniert und hat Angehörige in den KZs verloren. Sein Film ist die Darstellung des nicht Darstellbaren, des Grauens der Schoa.
Eine fiktive Liebesgeschichte wird mit Aufnahmen aus Leni Riefenstahls Triumph des Willens (1935) und Wochenschaumaterial kombiniert. Kurz nach dem Kinostart 1949 wurde der Film in der damaligen Tschechoslowakischen Republik verboten und verschwand, wie die Erinnerung an die Schoa selbst, für Jahrzehnte in den Archiven.
Der dritte Film zur Schoa ist The Exit of the Trains von Radu Jude und Adrian Cioflânca. Zweieinhalb Stunden lang werden die Namen von 13.266 Toten nüchtern aus dem Off gelesen, über Fotos aus Pässen und Familienalben. Es sind die Opfer eines unbeschreiblichen Pogroms im rumänischen Iasi, der »Wiege der rumänischen Kultur«, wie es heute so hübsch im Baedeker-Reiseführer heißt.
In Iasi fiel 1941 innerhalb einer Woche ein Drittel der jüdischen Bevölkerung einem Massaker zum Opfer, an dem Deutsche ebenso wie rumänische Polizisten, Militärs und Zivilisten beteiligt waren.
Den Schilderungen der Ezählerin kann man sich nicht entziehen.
Mit Golda Maria schließlich setzt der Filmproduzent Patrick Sobelman seiner Großmutter ein filmisches Denkmal. Eine starre 8-mm-Kamera zeichnete den Erinnerungsprozess aus nächster Nähe auf. Die Einfachheit der Gesprächssituation konzentriert sich auf die Erzählerin, deren Schilderungen man sich nicht entziehen kann.
REINWASCHUNG Mit großer Spannung wird der neue Film von Vanessa Lapa erwartet. Nach Der Anständige, der, basierend auf den Tagebüchern Heinrich Himmlers, einen Einblick in die bieder-sadistische Gedankenwelt des SS-Reichsführers gab und 2014 auf der Berlinale zu sehen war, wendet sich Lapa in ihrem neuen Film Albert Speer, Hitlers engstem Vertrauten zu, der es wie kein anderer vermochte, sich nach 1945 als unschuldiges Opfer zu inszenieren.
Verantwortlich für zwölf Millionen Zwangsarbeiter, sonnte er sich lange im Rufe des »guten Nazis«. Speer Goes to Hollywood führt uns ins Jahr 1971: Paramount Pictures plant, Speers Bestseller Erinnerungen zu verfilmen, und Speer will selbst am Drehbuch mitwirken.
Vanessa Lapas Film basiert auf Tonaufzeichnungen der monatelangen Gespräche, die der Drehbuchautor Andrew Birkin mit Speer geführt hat, und zeigt Speers skrupellosen Versuch, seine Vergangenheit mit dem geplanten Film reinzuwaschen. Lapa macht ihm einen Strich durch diese Rechnung.