Weshalb ist dieser Abend anders als alle anderen?» Mit dieser Frage läuten die Kinder am Sederabend den wichtigen Teil des Erinnerns ein. Als Antwort berichten die Väter vom Auszug der Israeliten aus der ägyptischen Gefangenschaft, wie sie im 2. Buch Mose geschrieben steht.
Doch kann man an etwas erinnern, das möglicherweise niemals stattgefunden hat? Denn ob tatsächlich ein Volksstamm der Israeliten – angeführt von Moses – aus ägyptischer Gefangenschaft floh, dann 40 Jahre durch die Wüste der Halbinsel Sinai wanderte und sich schließlich im gelobten Land Kanaan niederließ, ist alles andere als belegt.
Wissenschaftler streiten seit jeher über die Historizität der Geschehnisse. Auf archäologische Quellen können sie dabei kaum zurückgreifen. Vor allem die Analyse schriftlicher Überlieferungen soll deshalb Antworten liefern. Allerdings wirft diese Vorgehensweise oft die Gretchenfrage der Geschichtswissenschaften auf: Kann man die biblischen Schriften als Dokumente der Geschichtsschreibung nutzen?
Historizität Argumente für und gegen die Historizität des Exodus füllen bereits Bücherwände. Vor einiger Zeit kochte das Thema erneut hoch. Auslöser ist ein Essay des Bibelforschers Joshua Berman von der israelischen Bar-Ilan-Universität. Auf dem amerikanischen Blog «Mosaic Magazine» stellte er einmal mehr die Frage: «Gab es einen Exodus?», und veröffentlichte dort neue Indizien für eine bejahende Antwort.
Berman will Parallelen zwischen dem Exodus-Buch der Fünf Bücher Mose und einem ägyptischen Text aus dem 13. Jahrhundert v.d.Z. identifiziert haben. Sollte tatsächlich eine Verbindung zwischen beiden Schriften bestehen, könnte man daraus einen historischen Hintergrund der Exodus-Erzählung ableiten.
In dem ägyptischen Gedicht wird der angeblich glorreiche Sieg des Pharao Ramses II. über die Hethiter bei der Schlacht von Kadesch im Jahre 1274 v.d.Z. besungen. Allerdings war es Teil einer riesigen Propagandaoffensive des ägyptischen Potentaten, da er sein eigentliches Ziel – Kadesch zu erobern – nicht erreicht hatte. Der Pharao ließ im ganzen Reich Reliefs aufstellen und Inschriften anbringen, die eine andere Version der Geschichte erzählen. Darin werden die unvorbereiteten Ägypter von hethitischen Streitwagen angegriffen und empfindlich getroffen. Ramses’ Truppen fliehen, sodass der Pharao allein dem feindlichen Heer gegenübersteht.
Doch ganz verlassen ist Ramses nicht, denn er ruft den Gott Amun um Hilfe, der prompt antwortet: «Vorwärts! Ich bin bei dir. Ich bin dein Vater – meine Hand ist bei dir, hilfreicher bin ich als Hunderttausende. Ich bin der Herr des Sieges, der die Tapferkeit liebt.» Die Hethiter erkennen entsetzt die göttliche Macht auf der Gegenseite – und benennen sie auch konkret. Ihre Niederlage ist damit besiegelt. Ramses besiegt im Alleingang 3500 Streitwagen. Es gibt keine Überlebenden. Viele der Hethiter sterben im Fluss Orontes.
Auch in der Exodus-Erzählung fliehen die Israeliten beim Anblick der feindlichen – in dem Fall ägyptischen – Streitwagen, die den von Moses angeführten Tross verfolgt haben. Auch hier bittet Moses um göttliche Unterstützung. Auch hier trägt der Gott entscheidend zum Ausgang des Kampfes bei, denn er stellt sich in der Person Moses den Feinden allein entgegen. Alle Ägypter sterben in den Fluten, als das geteilte Rote Meer wieder zusammenfließt. Zuvor hatten sie aber noch festgestellt, welche Gottheit sie angreift: «Ich muss vor Israel fliehen; denn Jahwe kämpft auf ihrer Seite gegen Ägypten.»
Die rechte Hand In beiden Fällen wird zudem «der starke Arm» beziehungsweise explizit «die rechte Hand» der göttlichen Macht betont – ein Motiv, das in ägyptischen Schriften vor allem in der politischen Propaganda genau dieser Zeit häufig auftaucht, in der Bibel hingegen nur in Verbindung mit dem Exodus.
In beiden Überlieferungen kehrt die Gefolgschaft des Siegers zurück, entdeckt die toten Feinde und stimmt daraufhin einen – sehr ähnlichen – Lobgesang auf den Gott, respektive den mit Gottesmacht ausgestatteten Pharao, an, indem sie ihn als Krieger feiert und hervorhebt, dass er ihre Moral gefestigt und sie schließlich gerettet hat.
Doch warum sollten diese Gemeinsamkeiten beweisen, dass der Exodus wirklich stattgefunden hat, und bei seiner Datierung helfen? Joshua Berman sieht in der angenommenen Wiederverwendung der narrativen Motive aus dem Kadesch-Gedicht eine Art kulturellen Widerstand. Der oder die Autoren der Exodus-Erzählung machten sich die Symbolik des Feindes zu eigen und setzten sie gegen ihn ein.
«Übernahme und Umdeutung des Materials macht den Anspruch geltend, dass der Gott Israels die größte Leistung des größten irdischen Herrschers übertrifft», schreibt Berman. Da nun die Propagandaoffensive Ramses’ II. eindeutig in das 13. Jahrhundert v.d.Z. datiert werden könne, sei deshalb auch anzunehmen, dass die Exodus-Erzählung ihren Ursprung in dieser Zeit habe.
Denn um sie zu verfassen und zu verstehen, musste man das Kadesch-Gedicht kennen. Die jüngsten bekannten Quellen dieses Textes stammen allerdings aus dem 13. Jahrhundert v.d.Z.. Spätere Referenzen in der ägyptischen Literatur seien nicht bekannt. Ob es der Text jemals nach Israel geschafft hat, wissen wir ebenfalls nicht. Allerdings sei er nicht nur durch Inschriften, sondern auch auf Papyri verbreitet worden.
Zeitzeugnis Die Exodus-Erzählung könne also vermutlich nur mit einem Erfahrungshorizont geschaffen werden, der in Ägypten liegt – möglicherweise von Verfassern, die ursprünglich dort lebten. Folgt man Bermans Argumentation, so scheint nachvollziehbar, dass ein solch anti-ägyptischer Text seine größte Wirkung zeitlich während und kurz nach der Regierungszeit Ramses II. erzielt haben dürfte und deshalb höchstwahrscheinlich in eben diesem Zeitraum entstand. Berman unterstreicht darüber hinaus, dass die Exodus-Erzählung Realitäten enthalte, die nur ein Zeitgenosse so genau wissen konnte. So beschritten etwa die Israeliten nicht die direkte nördliche Route nach Kanaan, da diese zu stark bewacht war. Archäologische Grabungen weisen tatsächlich ein dichtes Netz aus militärischen Stützpunkten entlang der Straße nach.
Die beschriebenen Parallelen zwischen beiden Texten sind auf den ersten Blick zugegebenermaßen sehr auffällig, insbesondere die Wortgleichheit der «rechten Hand». Sogar die Reihenfolge der sich ähnelnden Elemente ist identisch, wie Benjamin D. Sommer vom Jewish Theological Seminary in New York in einer Antwort auf Bermans Essay ergänzt.
Doch es entsteht der Eindruck, dass der Autor die Texte mitunter zu stark abstrahiert, um verwandte Motive zu finden. So setzt er etwa das spontane Eingreifen des Gottes Amun gleich mit dem planvollen Vorgehen Jahwes, der Moses im Vorfeld klare Instruktionen gibt und die Vernichtung der Ägypter ankündigt. Berman selbst räumt außerdem ein, dass die verwendete Symbolik teilweise auch in anderen Kulturen des antiken Nahen Ostens auftaucht. Zudem beweise der Textvergleich nicht, dass die Exodus-Erzählung, so wie sie uns heute vorliegt, in dieser Zeit entstanden ist.
Vorherrschend bleibt also die wissenschaftliche Meinung, dass die Heilige Schrift an diesem Punkt kein historisches Ereignis beschreibt. Allein schon die Abwesenheit jeglicher archäologischer Beweise erschwert die Rekonstruktion eines solchen realen Geschehens. Kein ägyptisches Schriftzeugnis erwähnt die Flucht eines versklavten Volksstammes der Israeliten, geschweige denn überhaupt seine Existenz im ägyptischen Reich. Erst auf einer Stele, die aus der Regierungszeit des Pharao Merenptah – eines Sohnes Ramses’ II. – Ende des 13. Jahrhunderts v.d.Z. datiert wird, findet sich die Bezeichnung «Israel» zum ersten Mal. Gemeint ist hier eine Menschengruppe dieses Namens, die von den Ägyptern vernichtend geschlagen worden sein soll.
Kritik Deshalb erntet Berman neben Zustimmung in der Debatte im Mosaic Magazine auch Kritik. Sein Kollege Ronald Hendel von der University of California in Berkeley bezeichnet die neuen Erkenntnisse als «interessant, aber nicht überzeugend» und verweist auf den derzeitigen Forschungsstand, der einen Exodus, wie in der Bibel beschrieben, nicht belegt. Hendel hebt die Diskussion einmal mehr auf die wissenschaftspolitische Ebene und unterstellt Berman, dieser wolle glauben, dass das Ereignis tatsächlich stattgefunden hat. «Er ist in einem Zwiespalt, wo das Herz das eine sagt und der Kopf etwas anderes», schreibt Hendel.
Berman selbst hatte zuvor in seinem Essay kritisiert, dass der wissenschaftliche Blick auf die Bibel inzwischen zu dogmatisch aufgeladen sei. Er warf einem Teil seiner Kollegen vor, dass sie in der Bewertung der biblischen Quellen eine Doppelmoral an den Tag legten, die einen neutralen Umgang mit diesen Schriften verhindere. Offensichtlich irreale Elemente würden sie stärker gewichten als in anderen antiken Schriften, wo diese genauso enthalten seien.
Die neuen Indizien werden das Rätsel um den Exodus sicherlich nicht lösen. Nach wie vor gibt es verschiedene Theorien, die eine Historizität entweder komplett abstreiten, sich auf ein tatsächliches Ereignis – und somit auf einen wahren Kern – festlegen oder etwa den Auszug der Israeliten aus Ägypten als längeren Prozess begreifen.
Quelle Bermans Arbeit allerdings belebt erneut den Diskurs über das Thema und bereichert ihn mit einer interessanten Perspektive auf antike Quellen. Außerdem wirft er noch einmal die Frage auf, die nicht nur auf wissenschaftlicher Ebene beantwortet werden muss: Ist es eigentlich wichtig, dass der Exodus stattgefunden hat? Eine Antwort darauf bietet der deutsche Ägyptologe und Religionswissenschaftler Jan Assmann in seinem 2015 erschienenen Buch Exodus – Die Revolution der Alten Welt an.
Er schlägt vor, sich von der Suche nach den Beweisen für eine Historizität freizumachen, um «nach der Bedeutung der Überlieferung zu fragen und sie nicht in dem zu suchen, was sie an historischen Fakten enthalten mag, sondern in dem, was sie uns und allen, die im Lauf der Jahrtausende diese Geschichte gehört und gelesen haben, über uns selbst, unsere Herkunft und Zukunft, unser Gottes- und Weltverhältnis sagen kann. Darin liegt die Lebendigkeit einer Tradition und damit auch des Buches Exodus, das gewiss zu den lebendigsten der biblischen Bücher gehört.»