Wer in diesen Tagen Gelegenheit hat, den israelischen Kabelsender HOT zu empfangen, kann dort die wohl ungewöhnlichste Fernsehserie sehen, die bislang über die Mattscheiben des Landes flimmerte: Nevelot, zu Deutsch »Kadaver«. Yossi Polak und Filmlegende Yehoram Gaon spielen zwei alte Palmachniks, Angehörige der sozialistischen Eliteeinheit aus der Zeit vor der Staatsgründung. Sie haben Israel in den Jahren der illegalen Einwanderung und des Unabhängigkeitskrieges unter Einsatz ihrer damals jungen Leben mit aufgebaut. Jetzt sind die zwei alten Haudegen wütend über das, was aus dem Land geworden ist. Vor allem ärgern sie sich über die postzionistische Jugend, die ohne Respekt für die Ideale und Leistungen ihrer Großeltern vergnügungssüchtig vor sich hin lebt. Als die beiden Veteranen wieder einmal von jungen Leuten gedisst werden, reicht es ihnen. Sie tun das, was sie im Krieg gelernt haben: Sie bringen die Jugendlichen um. Zu ihrer Verblüffung fühlen die beiden sich danach wieder jung und stark. Also morden die alten Männer weiter. In blinder Wut und mit steigendem Vergnügen.
tollkühn Vorlage für die Serie ist eine Novelle von Yoram Kaniuk. Aber auch, wenn Kaniuk eine gewisse Ähnlichkeit mit Yossi Polak hat und selbst Palmach-Veteran ist, kann Entwarnung gegeben werden: Weder Roman noch Film sind autobiografisch. Kaniuk hat nichts gegen junge Leute, im Gegenteil. Er unterhält sich gern mit ihnen in Tel Aviver Cafés. Für die Enkelgeneration ist der legendäre Außenseiter der israelischen Literatur inzwischen ein Kultautor.
Kaniuk, 1930 in Tel Aviv geboren, verkörpert zionistische und israelische Geschichte. Sein Vater, der erste Direktor des Tel Aviver Museums, war aus Galizien eingewandert. Die Mutter, eine Lehrerin, stammte aus Russland. Sohn Yoram brach mit 17 das Gymnasium ab und meldete sich zum Palmach. Im Unabhängigkeitskrieg 1948 kämpfte er mit der Har-El-Brigade in den Bergen um Jerusalem. Der alte Mann lächelt verlegen, wenn er an den jungen Palmachnik denkt, der immer wieder unnötig sein Leben riskierte. »Ich weiß gar nicht mehr, ob ich das tat, weil ich Angst hatte oder weil ich keine Angst hatte, aber die ganze Zeit versuchte ich, ein Held zu sein.« Eines Tages tauchte der Kommandeur auf – er hieß Yitzhak Rabin – und rief: »Wer von euch ist Yoram Kaniuk?« Dann fragte er den 18-Jährigen: »Sag mal, willst du als Sieb enden?« Fast wäre das geschehen. In Jerusalem wurde Kaniuk bei Kämpfen schwer verwundet. »Als ich zurückkehrte«, schreibt er in seinen Erinnerungen I did it my way, »war ich wie abgeschnitten von allem, sprach tagelang nicht und kritzelte auf Wände, denn ich hatte getötet, bevor ich ein Mädchen geküsst hatte«.
Nach dem Krieg ging Kaniuk nach Europa, um Schoa-Überlebende per Schiff nach Hause zu bringen. Im Gegensatz zu so vielen anderen jungen Israelis dieser Jahre empfand er keine Verachtung für die Überlebenden. »Für mich waren ›Juden‹ zuvor immer etwas Abstraktes gewesen. Aber als mir die Leute auf dem Schiff ihre Geschichten erzählten, verliebte ich mich in sie«, erinnert er sich. »Für mich sind sie die größten Helden!« Was die Überlebenden ihm berichteten, verarbeitete Kaniuk später in dem Roman Adam Hundesohn, der 2008 von Paul Schrader mit Jeff Goldblum in der Hauptrolle verfilmt wurde.
New York In den 50er-Jahren verließ Kaniuk Israel und wurde Maler, zuerst in Paris, dann in New York. Mit der Jazzlegende Charlie »Bird« Parker und mit Robert de Niro sen. zog er durch die Bars, er verkaufte Falafel und bezahlte an jüdische Mafiosi Schutzgeld. In New York erschien 1960 sein erster Roman The Acrophile, dort lernte er seine Frau Miranda kennen, dort wurde seine erste Tochter geboren. Als er kurze Zeit später wieder nach Tel Aviv zurückkehrte, traf Kaniuk im legendären Café California den Maler Jossel Bergner. »Er sagte: ›Ich habe Ihr Buch gelesen. Auf Englisch. Ein sehr schlechtes Buch.‹ Ich sah ihn lange an, und da wusste ich, dass ich nach Hause gekommen war.« Seit damals lebt Kaniuk als Schriftsteller. Seine Romane und Geschichten, teilweise verfilmt, wurden in Dutzende Sprachen übersetzt. Auch literarische Ehrungen blieben nicht aus. Aber da Kaniuk in keine Genreschublade einzuordnen ist, seine Bücher sich nur als »Kaniuk« und nichts sonst klassifizieren lassen, wurden seine Werke nie Teil des literarischen Kanons seiner Heimat. Den Israel-Preis hat er auch nie erhalten.
Späte Erfolge Seit er nicht mehr in der Friedensbewegung aktiv ist, hat Yoram Kaniuk es sich auch mit den meisten deutschen Kritikern verscherzt. Dabei hat er sich wie kein zweiter israelischer Schriftsteller mit Deutschland abgekämpft, dem Land, das sein Vater Moshe so tief und illusionslos geliebt hatte. Der Heinrich-Heine-Preis ging trotzdem an Amos Oz. Auch Kaniuks im vergangenen Jahr erschienener »Reisebericht« Zwischen Leben und Tod über das monatelange Koma, in dem er mit 74 Jahren gelegen hatte, wurde hierzulande beinahe völlig ignoriert. Jetzt gibt Kaniuk auf. Sein nächstes Buch, Erinnerungen aus dem 48er Krieg, wird nicht in deutscher Sprache erscheinen. Stattdessen kann Kaniuk sich darüber freuen, dass sein 1982 erstmals erschienener Roman Der letzte Jude in Israel wiederaufgelegt und von den jungen Kritikern stürmisch gefeiert wurde. In Frankreich erschien das Buch jetzt zum ersten Mal und erhielt sofort eine Auszeichnung.
Am 2. Mai wird Yoram Kaniuk 80 Jahre alt. Die Feier wurde ihm von seinen Freunden bereits im September vorigen Jahres ausgerichtet. »Die dachten wohl, ich schaffe es nicht mehr bis zu meinem Geburtstag«, sagt er und grinst.