Lesetipps

Alter, Analyse, Ahrenshoop

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Vorletzte Antworten

Eines Tages ist es so weit. Man mag zwar immer noch die Rolling Stones und trägt immer noch bunte Sommerkleider, aber das Spiegelbild teilt einem dann doch mit, dass man alt geworden ist. Ebenso die Tatsache, dass man sich eine Brille aufsetzen muss, um es in Augenschein nehmen zu können – leider auch diverse Verfallserscheinungen.

Über all das schreibt die 73-jährige Lily Brett in Alt sind nur die anderen, eine Sammlung von zwei Dutzend beschwingten Kolumnen, in denen eine leidlich gut erhaltene Autorin Auskunft über ihren Alltag gibt, in dem ihr plötzlich Dinge widerfahren, die ihr mit 30 oder 50 nie passiert sind.

In einem Wartezimmer redet eine Frau mit ihr über die darmentspannendste Position auf dem Klo. Am West Broadway hält sie einen Hydranten für einen Hund (und lässt sich danach endlich ihren Grauen Star operieren). Und in einem Apple Store wird sie gleich von zwei jungen Hüpfern so gönnerhaft bedient, als wäre sie ein Kleinkind.
Es ist ein Buch, das sich davor hütet, pompös zu sein. Keine letzten Fragen, dafür viele vorletzte Antworten für die Jahre, in denen man nicht mehr ganz so taufrisch unterwegs ist.

Man liest es mit großem Vergnügen und lernt dabei, dass Alter zwar zwickt und zickt, man selbst es aber nicht tun muss. Es geht nicht um Prinzipien und ähnlichen Bullshit, der 30-Jährigen so wichtig ist. Sondern darum, sich das Leben so einzurichten, dass man es nicht bloß bewältigen, sondern auch auskosten kann. Was sollte man schließlich sonst machen in der Zeit, die man noch hat? Peter Praschl

Lily Brett: »Alt sind nur die anderen«. Aus dem Englischen von Melanie Walz. Suhrkamp, Berlin 2020, 81 S., 15 €

Bericht aus dem Sechstagekrieg

Vor zwei Jahren veröffentlichte der Elsinor-Verlag als Weltpremiere das deutschsprachige Originalmanuskript des Romans Sonnenfinsternis von Arthur Koestler. Jetzt folgt im selben Verlag Mit dem Rücken zur Wand. Israel im Sommer 1948, die deutsche Premiere von Koestlers Augenzeugenbericht aus dem Unabhängigkeitskrieg. Die hier vorliegenden Tagebuchauszüge und Reportagen wurden erstmals 1949 in Koestlers Promise And Fulfilment veröffentlicht.

Sie gehören zum Besten, was Koestler als Journalist und Kriegsberichterstatter geschrieben hat, und verdeutlichen ein weiteres Mal, was seine Zeitgenossen an ihm fasziniert und manchmal auch gehörig provoziert hat: Koestler konnte schreibend leichtfüßig vom Fotografen zum Historiker, vom Propagandisten zum empfindsamen Psychologen wechseln. Wenn ihn Ungeduld oder Wut packte, verwendete Koestler seine Schreibmaschine auch gerne als Maschinenpistole. Er traf dabei natürlich nicht immer ins Schwarze, lag manchmal sogar gehörig daneben. Doch wenn Koestler Vermutungen über Israels Zukunft anstellte, lag er beängstigend oft richtig.

Mit dem Rücken zur Wand ist der Bericht eines Menschen, der im Augenblick der Verwirklichung seiner Träume notwendigerweise zwischen Enttäuschung und Bewunderung, Verärgerung und Stolz hin- und hergerissen ist. Ein verblüffend zeitloses Zeitdokument. Christian Buckard

Arthur Koestler: »Mit dem Rücken zur Wand. Israel im Sommer 1948. Ein Augenzeugenbericht«. Geleitwort von<br>Gil Yaron. Elsinor, Coesfeld 2020,<br>173 S., 25 €

Wo Einstein dauerlaubte

Albert Einstein hat es in Ahrenshoop sehr gefallen, er blieb gleich acht Wochen. Bertolt Brecht dagegen hat sich regelrecht gelangweilt. Lyonel Feininger wiederum traf sich hier heimlich mit seiner Geliebten Julia Lilienfeld – die seine zweite Frau wurde. Drei Geschichten nur, die Kristine von Soden mit leichter Hand in ihr Ahrenshoop-Buch gestreut hat, während sie zugleich profund vom Werdegang eines Ostseebades erzählt.

Das Gute: Die Autorin kennt sich im Ort aus, und sie ist literarisch bewandert: Vom Frühling bis zum Herbst weilt sie dort; sie veranstaltet dann literarische Rundgänge und eine Schreibwerkstatt. Entsprechend ist Ahrenshoop höchstpersönlich alles andere als ein klassischer Reiseführer, der mit vorgeblichen touristischen Sensationen lockt.

Es ist vielmehr ein leichtfüßiges, aber nie schwatzhaftes und vor allem ein exquisit literarisches Lesebuch, das sich Zeit nimmt, durch die Zeiten mitsamt seinen vielen Geschichten über jüdische Autoren zu schlendern – passend garniert mit wunderbar altmodischen Schwarz-Weiß-Fotos, die einen der Grellheit unserer Tage entheben. Und wenn es einen nach der Lektüre real nach Ahrenshoop verschlagen sollte: Verkehrt ist das sicher nicht. Frank Keil

<br>Kristine von Soden: »Ahrenshoop höchstpersönlich«. Transit, Berlin 2020, 160 S., 18 €

Griechische Verschwörung

Das Jahr 1957. Von München nach Athen. Vom Leichenwäscher zum Schadensachbearbeiter der Münchner Rückversicherung. Der britische Bestsellerautor Philip Kerr schickt seinen lebensvernarbten Berliner Ex-Polizisten Bernie Gunther, der mittlerweile unter falschem Namen lebt, in dessen 13. Fall nach Griechenland. Dort stößt er auf die Historie der ermordeten Juden von Thessaloniki und geraubtes Gold, auf den SS-Massenmörder Alois Brunner, Nazi-Nachkriegskarrieristen, Lügen, Gier, eine perfide Verschwörung und den Mossad.

Dieser Thriller – die Originalausgabe erschien zwei Wochen nach Kerrs Tod – war der vorletzte, chronologisch der letzte Auftritt Bernie Gunthers (mit Metropolis, 2019 publiziert, schrieb Kerr ein Prequel). 1989 hatte dieser, nie um Sarkasmus verlegen, seinen ersten Auftritt.

Und hat mit Trojanische Pferde – das für jeden Sommerurlaub, ob zu Hause oder in der Ferne, ein großes Glück ist – nun einen lesenswert raffinierten Abgang: »Das Meer sieht schön aus, bis die Ebbe kommt«, sagt Gunther. »Und dann kommt all das Hässliche zutage, das es sonst verbirgt.« Alexander Kluy

Philip Kerr: »Trojanische Pferde«. Aus dem Englischen von Axel Merz. Wunderlich, Hamburg 2020, 496 S., 24 €

Analyse und Anekdoten

Einer der wichtigsten deutschen Philosophen des 20. Jahrhunderts ist am 13. Juli 1920 geboren worden: Hans Blumenberg. Er ist besonders mit seinen Arbeiten zur Geistesgeschichte der frühen Neuzeit (Die Legitimität der Neuzeit) und zu seinem in fünf Bänden erschienenen maßstäblichen Werk über die philosophische Dimension der Metapher auch international breit rezipiert worden.

Den letzten dieser fünf Bände, Die nackte Wahrheit, hat Rüdiger Zill im vergangenen Jahr aus dem Nachlass des 1996 Verstorbenen herausgegeben. Der Mitarbeiter am Potsdamer Einstein-Forum hat jetzt eine Biografie des Autors der Paradigmen der Metaphorologie verfasst, die zu einer Renaissance der gar nicht abgebrochenen Blumenberg-Rezeption führen dürfte.

Rüdiger Zill überschreibt sein bis in die zahlreichen Fußnoten interessantes Werk mit dem Titel Der absolute Leser. Mit einem Wechselspiel zwischen vertiefender Werkanalyse und »anekdotischer« Lebensbeschreibung gelingt dem Autor genau das, was er verheißt: »eine intellektuelle Biographie«.

Wie ein roter Faden zieht sich durch Leben und Werk das Schicksal von Hans Blumenberg, der eine zum Protestantismus konvertierte jüdische Mutter und einen katholischen Vater hatte. Während der Nazizeit schützten solche Übertritte nicht vor Verfolgung. Blumenberg musste schon 1933 antisemitische Demütigungen hinnehmen, die sich noch Jahre nach Kriegsende wiederholen sollten. So gewinnt das Buch neben der philosophischen und der biografischen auch eine zeitgeschichtliche Dimension. Harald Loch

Rüdiger Zill: »Der absolute Leser. Hans Blumenberg. Eine intellektuelle Biographie«. Suhrkamp, Berlin 2020, 816 S., 38 €

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