Schon im Vorfeld der 80. Filmfestspiele von Venedig gab es ordentlich Diskussionsstoff. Aus personeller Sicht sorgten etwa die Einladungen von Woody Allen und Roman Polanski für Empörung, die Festivaldirektor Alberto Barbera natürlich einkalkuliert hatte.
Polanski, der 1977 wegen Vergewaltigung vor Gericht stand und schließlich wegen »außerehelichem Geschlechtsverkehr mit einer Minderjährigen« schuldig gesprochen wurde, war außer Konkurrenz mit seinem Ensemble-Klamauk The Palace vertreten. Titelgebend ist das Luxushotel in den Schweizer Alpen, in dem sich am Abend des 31. Dezember 1999, vor dem vermeintlichen Ende der Welt, ein Haufen exzentrische Figuren versammeln und den engagierten Hotelmanager Hansueli (toll: Oliver Masucci) in den Wahnsinn treiben. Ein uninspirierter, altbackener Film, dessen Gags nur selten zünden.
Woody Allens neuer Coupe de Chance lief ebenfalls außer Konkurrenz. Allen erzählt von einem gutbürgerlichen glücklichen Paar, dessen Beziehung auf die Probe gestellt wird, als es zufällig einem alten Schulkameraden begegnet. Wenn auch nicht schuldig gesprochen wie Polanski, gilt Allen wegen des Vorwurfs des sexuellen Missbrauchs seiner Adoptivtochter Dylan vielerorts ebenfalls als Persona non grata
NASE Wesentlich heißer und prominenter allerdings wurde in den vergangenen Wochen über eine Nase diskutiert. Ist es legitim, dass sich der nichtjüdische Regisseur und Schauspieler Bradley Cooper eine Nasenprothese anlegt, um in seinem Film Maestro den Komponisten, Dirigenten und Pianisten Leonard Bernstein, Sohn jüdisch-ukrainischer Einwanderer in die USA, zu verkörpern?
Die Werke von Roman Polanski und Woody Allen liefen außer Konkurrenz.
Die Kritiker sprachen von »Jewfacing«; Cooper bediene in seiner Netflixproduktion eine stereotype Darstellung, anstatt einen jüdischen Schauspieler für die Rolle zu besetzen. Eine Kritik, die sich etwa auch Helen Mirren vor einiger Zeit von der britisch-jüdischen Schauspielerin Maureen Lipman für ihre Darstellung der Golda Meir gefallen lassen musste.
Andere wiederum argumentierten, dass das Wesen der Schauspielerei die kulturelle Aneignung sei und Coopers Vorgehen damit gerechtfertigt. Zumal sich die Kinder des 1990 verstorbenen Bernstein hinter Cooper stellten.
Auf welcher Seite man sich auch wähnt, nach dem Film stellt sich dennoch die Frage: Warum überhaupt diese Prothese? Coopers Ansinnen liegt auf der Hand, geht aber nicht ganz auf: Er will sich ganz unverhohlen für die Award-Season bewerben und legt deshalb großen Wert auf ein möglichst perfektes Imitat des Maestro. Es hat schon etwas irritierend Selbstverliebtes, wie er sich in seinem Film immer wieder in Großaufnahmen in Szene setzt. Anderserseits passt es zu seinem Biopic, das Fragen stellt zum Geniekult und diesen reproduziert.
So konventionell, wie von vielen kritisiert, ist der von Martin Scorsese und Steven Spielberg mitproduzierte Film allerdings nicht. Anstatt sich klassisch an Lebensstationen und Bernsteins Werk abzuarbeiten, konzentriert sich Maestro vor allem auf sein Verhältnis zu seiner Frau, der chilenischen Schauspielerin Felicia Montealegre (Carey Mulligan). Das Paar erscheint im Film wie füreinander geschaffen, verbunden durch ein unsichtbares Band.
Mit teils assoziativen Montagen und Musicaleinlagen erzählt der gerade in der ersten Hälfte sehr dynamisch inszenierte Film davon, wie die Ehe der beiden über die Jahre von Bernsteins Arbeit, für die Felicia sich immer weiter dem Privaten widmet, und dessen homosexuellen Affären strapaziert wird.
Eine beiläufige Szene des Films visualisiert eine seiner Kernaussagen. Dort steht Felicia auf einer Bühne, während das Schattenspiel ihres dirigierenden Mannes über sie tanzt: die Frau im Schatten ihres berühmten Mannes. Cooper feiert das Genie, und doch ist Carey Mulligan der eigentliche Star des Films.
STREIK Zu Gast auf dem roten Teppich in Venedig waren Mulligan und Cooper nicht. Wie viele andere in diesem prominent besetzten Jahrgang auf dem Lido reisten die beiden aus Solidarität mit den Streiks der Drehbuchautoren und Schauspieler in Hollywood nicht an.
Bradley Cooper feiert das Genie, doch in »Maestro« ist Carey Mulligan der eigentliche Star.
Maestro konkurriert im Wettbewerb auf dem Lido mit 23 Produktionen um die Löwen, jüdische Filmemacher und Themen sind in diesem Jahr kaum vertreten. Einzig Michael Manns Ferrari feierte im Wettbewerb Premiere. Der 80-Jährige verbindet in seinem Biopic, in dem Adam Driver den Ferrari-Gründer Enzo Ferrari gibt und Penélope Cruz dessen Frau, eine Charakterstudie mit Actionkino.
Außer Konkurrenz präsentierte der 93-jährige Altmeister Frederick Wiseman seinen Dokumentarfilm Menus Plaisirs – Les Troisgros In dem vierstündigen Film blickt der Regisseur hinter die Kulissen des französischen Restaurants La Maison Troisgros, das in seiner mehr als 50-jährigen Geschichte drei Michelin-Sterne erhalten hat.
Mit Tatami lief in der Nebenreihe Orizzonti der erste Spielfilm, den ein iranischer und ein israelischer Filmemacher gemeinsam inszeniert haben. Guy Nattiv und Zar Amir Ebrahimi erzählen von einer Judo-Kämpferin und ihrem Trainer. Die beiden reisen zur Judo-Weltmeisterschaft, als sie eine Anordnung der Islamischen Republik erhalten: Die Kämpferin soll eine Verletzung vortäuschen und verlieren, um nicht als Verräterin des Staates gebrandmarkt zu werden.
Am Samstag werden die Löwen vergeben, und es müsste mit dem Teufel zugehen, sollte Giorgos Lanthimosʼ feministischer Frankenstein Poor Things, eine so verstörende wie lustige Reflexion über Geschlechterrollen, Sexualität und Etikette mit einer fantastischen Emma Stone, leer ausgehen.
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