Hajo Holborn, ein deutsch-amerikanischer Historiker, schrieb einmal: »Die Geschichte gibt nur jenen Antworten, die wissen, wie man Fragen stellt.« Und wenn es einen gegeben hatte, der die richtigen Fragen stellte, dann war es wohl Yehuda Bauer, der am 20. Oktober im Alter von 98 Jahren starb. Sieben Jahrzehnte war der Historiker unerbittlich auf der Suche nach Antworten – insbesondere, aber nicht nur dann, wenn es um das qualvollste Kapitel der jüdischen Geschichte ging, und zwar die Schoa.
Als Pionier der Holocaust-Forschung ist es ihm zu verdanken, dass Generationen von Wissenschaftlern und Studenten lernten, die Vernichtung der europäischen Juden zu verstehen – auch wenn dieses Wort hier etwas unangemessen klingt.
Bauer selbst wurde 1926 in Prag geboren. Er wuchs, wie viele Juden in der Hauptstadt der Tschechoslowakei damals, mit Deutsch und Tschechisch auf. Er sprach außerdem fließend Hebräisch, Englisch, Jiddisch und Französisch und konnte unter anderem auch Polnisch mühelos lesen und verstehen. Der liberale Zeitgeist der Tschechoslowakei der Zwischenkriegszeit und ihr tragisches Ende hinterließen einen unauslöschlichen Eindruck bei ihm – obwohl es Bauer gelang, Europa in letzter Minute zu verlassen. Zwar schon seit Längerem geplant, geschah die Flucht nach Palästina ausgerechnet an dem Tag, an dem deutsche Truppen in die Tschechoslowakei einfielen.
Sein Geschichtslehrer inspirierte ihn zum Studium der Vergangenheit
Es war der Einfluss seines Geschichtslehrers in Haifa, der den jungen Yehuda dazu brachte, sein Leben dem Studium der Vergangenheit zu widmen und ein Praktiker in der »Werkstatt des Historikers« zu werden, wie Marc Bloch das einmal nannte. Zu diesem Zweck studierte Bauer nach dem Krieg Geschichte an der Universität Cardiff. Denn in den letzten Jahren des britischen Mandats über Palästina hatte er ein Stipendium der britischen Regierung erhalten. Später sollte er an der Hebräischen Universität in Jerusalem promoviert werden.
Erst Anfang der 60er-Jahre widmete er sich auf Drängen des legendären Partisanen und Dichters Abba Kovner aus dem Ghetto von Wilna genau dem Bereich, in dem er berühmt wurde: der Erforschung des Holocaust. Zu dieser Zeit beschäftigte sich nur eine Handvoll Wissenschaftler mit diesem Thema. Zu frisch war damals noch die Wunde. Unterdessen hatte Yehuda im Palmach, der Elitetruppe der Hagana, für die Unabhängigkeit Israels gekämpft und wurde Gründungsmitglied des Kibbuz Schoval im Negev. Dieser sollte zu seiner spirituellen Heimat werden. Dort wurde der Historiker auch, obwohl er zuletzt in Jerusalem gelebt hatte, neben seiner Frau Ilana beigesetzt.
Kovner hätte sich keinen fähigeren und aufmerksameren Chronisten aussuchen können. Bauer war der Meinung, dass der aufregendste Aspekt des Geschichtsstudiums die neuen Entdeckungen und Interpretationen seien – und das vor allem dann, wenn sie zur Dekonstruktion bestehender Lehrmeinungen führten. Als souveräner Gelehrter zögerte Bauer auch nie, zuzugeben, wenn er sich einmal geirrt haben sollte. Wenn es neue Erkenntnisse gab, zeigte er jedes Mal aufs Neue Begeisterung.
An der Hebräischen Universität Jerusalem galt Bauers Engagement für seine Studenten als beispiellos
Als Dozent an der Hebräischen Universität sah er sich in erster Linie als Pädagoge. Bauers Engagement für seine Studenten galt als beispiellos. Doch noch wichtiger war seine Arbeit als Chefhistoriker bei Yad Vashem. Dani Dayan, der langjährige Vorsitzende, sagte zu Recht, dass ohne Bauers Beiträge die Gedenkstätte nicht die führende Position in der Holocaust-Forschung erlangt hätte, die sie heute unzweifelhaft einnimmt.
Bauers Wissen, seine Neugierde für vergangene und gegenwärtige Ereignisse, waren schlichtweg atemberaubend. Er war in der Lage, Ideen und Fakten aus verschiedenen Kontinenten und Epochen zusammenzutragen und sie in kraftvolle, zum Nachdenken anregende Prosa zu verwandeln.
Zudem war er auch ein fesselnder Redner. Sobald er mit einem Vortrag begann – fast immer ohne Manuskript –, konnte man im Publikum die sprichwörtliche Stecknadel fallen hören. Bei einem Symposium über die Reaktion der Alliierten auf den Holocaust hielt er 2015 wohl eine seiner berühmtesten Reden, auch diesmal ohne Notizen. Er sprach davon, wie man die Handlungen und Unterlassungen der westlichen Alliierten verstehen müsse und ob die Amerikaner und Briten Millionen von Juden hätten retten können, wenn sie nur gewollt hätten. Als er eine Stunde später endete, war der Applaus ohrenbetäubend.
Der Chefhistoriker von Yad Vashem galt als unerschrockener, aber nicht unkritischer Zionist.
Ein Student im Publikum, damals Praktikant bei einer Denkfabrik, kam anschließend auf mich zu und meinte überschwänglich: »Das war der beste Vortrag, den ich je gehört habe. Ich hoffe, dass ich mit 85 Jahren auch noch so sein werde.«
Ich antwortete ihm: »Junger Mann, ich bin zwar erst 52, aber nicht annähernd in der Lage, eine vergleichbare Präsentation zu halten, und werde das auch nie sein. Das hier ist einer der großen Denker unserer Zeit. Doch leider wird dieses Modell schon seit einiger Zeit nicht mehr gebaut und verkauft.« Es war nicht nur Bauers Brillanz, die ihn von anderen Gelehrten unterschied, sondern auch seine Bescheidenheit und sein Humor.
Wir verfassten mehrere Artikel zusammen. Als es Zeit war, den ersten einzureichen, und ich ihn fragte, welche schönen Titel und Berufsbezeichnungen ich unter den Text setzen sollte, sagte er: »Schreib einfach ›Die beiden Autoren sind Historiker‹. Es ist nicht nötig, etwas hinzuzufügen.«
In den letzten zehn Jahren seines Lebens wurde das »Israel Journal of Foreign Affairs«, dessen Chefredakteur ich sein durfte, zu einer seiner Lieblingsplattformen. Wir veröffentlichten fast 15 Texte von ihm, die sich alle mit Antisemitismus, Demokratie, Holocaust-Gedenken, aber auch mit der russischen Invasion in der Ukraine befassten.
In einem Text über Illiberalismus kritisierte er die israelische Regierung scharf
Als ich einmal seinen Text über Illiberalismus redigierte, in dem er die israelische Regierung scharf kritisiert hatte, sagte ich lachend zu ihm: »Ich glaube nicht, dass Frau Netanjahu dich danach zum Schabbatessen einladen wird.« Seine Antwort lautete: »Das ist einer der großartigen Vorteile, wenn man ein so hohes Alter erreicht hat wie ich. Man kann dann schreiben, was man will, und den Dingen einfach ihren Lauf lassen.« Auf sein Alter anspielend, unterzeichnete er manche Briefe gerne mit »Bauerus Tyrannus Nebbichus Rex« oder als »Ischariot«.
In E-Mails schrieb er in Anlehnung an Nietzsche manchmal »Also sprach Zarabauer«, und sein Apartment in einer betreuten Wohneinrichtung in Jerusalem hieß »Festung Hohebauerburg«.
Yehuda Bauer war Humanist und auch ein unerschrockener, aber nicht unkritischer Zionist. Nationalistische Prahlerei konnte er nicht ausstehen, insbesondere wenn sie mit der Erinnerung an die Schoa in Verbindung stand. Die Politisierung der Vergangenheit oder ihre Instrumentalisierung lehnte er entschieden ab.
»Um das Nationalbewusstsein und die nationalistische politische Führung zu stärken, muss eine Vergangenheit gefunden werden, die zur Erziehung – genauer gesagt zur Indoktrination – der Nation, Jung und Alt, genutzt werden kann«, schrieb er einmal. »Wenn eine solche erhebende Vergangenheit nicht verfügbar ist, muss sie erfunden werden.« Gleichzeitig warnte er vor der Tendenz, ein »überzeichnetes« oder verherrlichendes Bild historischer Ereignisse zu schaffen.
Bauer glaubte fest an die Idee von Tikkun Olam – ein Begriff, der heutzutage bis zur Unkenntlichkeit entwertet und verzerrt ist. Er interessierte sich besonders für das Phänomen des Völkermords und die Möglichkeiten seiner Verhinderung – und natürlich für die Frage, ob der Holocaust als »einzigartiges« Ereignis in der Geschichte angesehen werden müsse oder nicht. Zu diesem Zweck gründete er das »Genocide Prevention Advisory Network«, das leider nicht die erhoffte Resonanz erhielt. Erfolgreicher war hingegen die International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA), an deren Gründung er beteiligt war.
Seine Grabrede schrieb er selbst. Gegen Ende entschuldigte er sich dafür, dass sie so lang geraten sei, versprach aber, dass das nicht wieder vorkommen würde.
Kurz vor seinem Tod wurde Bauer im israelischen Rundfunk gefragt, was er für die Zukunft plane. »Sterben«, so lautete seine Antwort. Er hatte seine eigene Grabrede verfasst, die dann von einer seiner Töchter vorgelesen wurde. Mit viel Witz skizzierte er sein Leben, was viele der am Grab Versammelten zum Schmunzeln und sogar zum Lachen brachte.
Ebenso betonte Bauer seine Liebe zu Israel und zum jüdischen Volk. »Ejn li eretz acheret«, zu Deutsch: »Ich habe kein anderes Land«, hieß es darin. Gegen Ende entschuldigte er sich dafür, dass die Rede so lang geraten sei, versprach aber, dass das nicht wieder vorkommen würde. Regierungsvertreter waren bei der Beerdigung übrigens nicht anwesend, und das trotz seiner Leistungen, für die er unter anderem den Israel-Preis erhalten hatte. Das hätte den Toten aber wahrscheinlich weder überrascht noch enttäuscht; es wäre ihm wohl ziemlich egal gewesen.
Leider ist die Stimme dieses Intellektuellen nun verstummt. Sein umfangreiches wissenschaftliches Werk wird aber weitaus länger Bestand haben als das stabilste Marmordenkmal, das man für ihn errichten könnte. Sein Andenken wird sowohl ein Segen als auch eine unerschöpfliche Inspirationsquelle für die kommenden Jahre sein.
Der Autor ist Historiker und Repräsentant des World Jewish Congress (WJC) in Israel.