Frau Gundar-Goshen, Sie haben ungefähr zur gleichen Zeit angefangen, zu schreiben und als Psychotherapeutin zu arbeiten. Welche Verbindung gibt es zwischen beiden Berufen?
Tagsüber arbeite ich als Psychologin, und Schreiben ist wie eine Geliebte, zu der ich mich nachts davonschleiche. Ich habe dafür nicht viel Zeit, dafür umso mehr Leidenschaft! Ich liebe beides. Ich habe mir geschworen, niemals etwas für die Literatur zu verwenden, das mir in einer Therapiesitzung erzählt wurde. Ich glaube, ich würde nicht schreiben können, wenn ich das Gefühl hätte, Menschen das Kostbarste zu stehlen, um es als Material für meine Romane zu benutzen. Es geht hier um das Leben von Menschen. Das ist kein Material. Es gibt da für mich eine große dicke Trennmauer. Noch nie hat sich ein Patient in meinen Romanen wiedergefunden. So soll es auch sein.
Doch Ihre psychotherapeutischen Fähigkeiten kommen Ihnen beim Schreiben zugute.
Unbedingt. Hier gibt es gar keine Mauer, sondern einen Fluss in beide Richtungen. Wenn ich etwa einen Patienten treffe, stelle ich ihm dieselben Fragen, die ich mir bezüglich einer Romanfigur stelle. Man versucht, denjenigen nicht zu beurteilen, sondern seine Motive zu verstehen.
Auf Deutsch heißt Ihr aktueller Roman »Wo der Wolf lauert«. Wer ist dieser Wolf? Der Fremde? Antisemitismus? Vorurteile? Unsere Familien? Unsere eigenen Abgründe?
Genau diese Frage habe ich mir auch gestellt. Bei jedem Roman gibt es eine Frage, die den Autor zum Schreiben motiviert. Für mich war genau das die Kernfrage dieses Buches. Als Eltern zum Beispiel haben wir immer Angst vor dem »Wolf«, der unseren Kindern etwas antun könnte. Es ist unsere Aufgabe, unsere Kinder zu beschützen vor dem Bösen, das da draußen lauert, vor dem »Erlkönig«. Das ist die Essenz von Elternsein. Es ist aber sehr viel reizvoller, die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, dass das Böse eben nicht irgendwo da draußen lauert, sondern in uns. Dass die Gefahr nicht notwendigerweise ein äußerer Feind ist, sondern das Aggressionspotenzial in unseren eigenen Kindern oder in uns. Die meisten Eltern sorgen sich weitaus mehr darum, dass ihr Kind in der Schule gemobbt werden könnte, als dass ihr Kind dasjenige ist, das anderen wehtut.
Der Originaltitel »Relocation« hingegen deutet ein anderes Thema an – die langen Schatten der eigenen Herkunft und individuelle Selbstfindung außerhalb Israels. Warum verlassen so viele Israelis ihr Land?
Das hat etwas damit zu tun, wie sich für uns als Israelis die Definition von Immigration verändert hat. »Galut«, das hebräische Wort für Exil, hat einen sehr negativen Beigeschmack. Auch »Jerida«, das Wort für Auswanderung aus Israel, klingt nicht gerade positiv – »Abstieg« im Gegensatz zu Alija, »Aufstieg«. Alija nach Israel? Der Traum! Den modernen israelischen Traum jedoch drückt das Wort »Relocation«, Umzug, aus. Denn der moderne israelische Traum ist der amerikanische Traum – nach Kalifornien zu gehen, ins Silicon Valley, Karriere im Tech-Sektor zu machen.
Inwiefern hat diese Entwicklung Ihr Romanthema geprägt?
Noch die Generation meiner Eltern sprach vom »Abstieg«. Israel zu verlassen, ist für sie das Schlimmste, was ein Jude machen kann. Für meine Generation ist »Umzug« etwas Positives. Denn unsere Kinder müssen nicht in einer ewigen Konfliktsituation leben. Galut ist etwas, das einem aufgezwungen wird, Relocation ist eine freie Entscheidung, so sehen das heute viele. Das hat mich interessiert – eine Heldin, Lilach, die sich entscheidet, Israel zu verlassen, in den USA zu leben und ihre israelische Identität abzulegen wie einen Mantel.
Geht das so einfach? Schließlich wird die Romanheldin auch in Amerika mit ihrem Jüdischsein konfrontiert.
Das stimmt. Lilach versucht, ihrer jüdischen, ihrer israelischen Identität zu entfliehen. Sie dachte, sie hätte es geschafft. Sie dachte, sie sei geschützt im amerikanischen Traum wie Jonah im Wal. Dann passiert die Terrorattacke in der Synagoge. Und ihr wird klar, auch wenn sie sich selbst weder als jüdisch noch als israelisch beschreibt – andere tun es. Es geht nicht immer darum, wie man sich selbst definiert. Andere definieren dich. Als Jude. Als Israeli. Das war der Fall bei dem Anschlag auf die Synagoge in Pittsburgh 2018.
Haben Sie selbst Momente erlebt wie Lilach? Dass Sie dachten, so etwas passiert hier nicht?
Ja, als Teenager bei einem Besuch in Berlin. Ich erinnere mich, dass ich damals dachte: Das ist lange her. Das Deutschland von heute muss absolut frei von Antisemitismus sein, hier ist man sich der Vergangenheit bewusst. Als ich dann das erste Mal ein Hakenkreuz auf einer Häuserwand sah, wurde mir klar, dass das nicht so ist. Lilach möchte denken, dass Dinge sich verändert haben. Dann wird sie konfrontiert. Und es verändert nicht nur ihren Blick auf ihre Identität, sondern auch den ihres Kindes auf seine.
Bedeutet Relocation eine Art Emanzipation vom Konzept Israels als Sehnsuchtsort der Juden in der Diaspora?
Auf viele Israelis, die nach Berlin kommen, trifft das sicher zu. Viele sagen: Das ist Emanzipation von der Zionismus-Idee, wie sie heute manifestiert ist. Wir verlassen das Land, das unsere Großeltern mühevoll aufgebaut haben. Aber für Israelis, die nach Amerika gehen, ist das viel komplizierter. Sie leben seit Jahren in den USA, sprechen aber immer noch von Israel als »Haaretz«, »dem Land«. Sie sprechen zu Hause Hebräisch, identifizieren sich als Israelis. Viele behaupten immer noch, Amerika sei eine vorübergehende Phase in ihrem Leben – obwohl ihnen längst klar ist, dass sie nie zurückgehen werden. Viele von ihnen sind nach Amerika gegangen, als es noch als »Abstieg«, »Jerida«, galt – viele fühlen sich daher schuldig.
Schuld ist ein zentrales Motiv in all Ihren Romanen, auch bezüglich der Generationenkonflikte zwischen Eltern und Kindern.
Schuld ist ein Ergebnis des Zusammenpralls zwischen dem, wer wir sind, und dem, wer wir sein wollen. Dieser Zusammenprall ist für Literatur essenziell. Der Gedanke, dass es da eine Kluft gibt zwischen dem, wie ein Mensch wirklich ist, und dem, was er vorgibt zu sein, wie er sich nach außen präsentiert. In diesem Funken, der der Reibung zwischen Wirklichkeit und Fantasie entspringt, entsteht Literatur.
Wie würden Sie diese Kluft in der Eltern-Kind-Beziehung beschreiben?
Wie gut kenne ich als Mutter oder als Vater mein Kind wirklich? Wie sehr möchte ich es wirklich kennen? Will ich, dass mein Kind glücklich ist? Oder will ich vielmehr, dass es ein guter Mensch ist? Was ist mir wichtiger? Was bereitet mir mehr Sorgen? Als Mutter hat man das Bedürfnis, sein Kind vor der Welt zu beschützen. Nicht umgekehrt.
In »Wo der Wolf lauert« reflektieren Lilach und Michael, die Eltern, über Nähe und Distanz, über das Loslassen von Erwartungen – in Bezug auf sich selbst und ihr Kind. Wie können Eltern Entfremdung zu ihren Kindern entgegenwirken?
Das ist eine der größten Schmerzquellen in den meisten Familien, die ich kenne. Ein Schmerz, der daraus resultiert, dass wir anerkennen müssen: Wir tragen ein Kind in unserem Körper; man ist so verbunden, physisch und emotional – und dann kommt das Kind in diese Welt, und es entsteht Distanz. Dieser kleine Spalt Distanz wird irgendwann zu einem breiten Fluss. Und du beginnst dich zu fragen: Wie kann es sein, dass jemand, der einmal in mir war, plötzlich so fern ist, so entfremdet, dass ich nicht sicher bin, wessen er fähig ist? Wir müssen nur unsere eigenen Eltern anschauen: Wie viel wissen wir nicht über sie? Wie viel wollen wir nicht über sie wissen? Denn, wer weiß, würden wir sie noch lieben, wenn wir alles wüssten? Es ist interessant: Du willst die Menschen kennen, die du liebst. Aber zugleich hast du das Bedürfnis, bestimmte Aspekte an ihnen zu ignorieren, um sie weiter lieben zu können. Die reine Liebe des Kindes zu seinen Eltern ist offenbar ruiniert, sobald es seine Eltern nicht mehr als Götter betrachtet, sondern als Menschen.
Elternschaft ist der eigentliche Psychothriller?
Als Mutter ist man immer Detektivin. Das Kind bleibt immer ein Mysterium. Vielleicht ist das die ultimative Herausforderung für Eltern: zu respektieren, dass man dieses Rätsel nicht lösen kann, dass man keine komplette Kontrolle hat. Dass das Kind sich entfernen muss, um ein Individuum zu sein und eben keine Erweiterung des eigenen Ichs ist. Das ist harte Arbeit. Und fast erniedrigend insofern, als wir uns als Eltern von Göttern in Bettler verwandeln. Kleine Kinder schauen uns noch mit anderen Augen an als Teenager. Und das ist völlig in Ordnung! Schließlich haben wir das mit unseren Eltern auch gemacht.
In all Ihren Romanen entschlüsseln die Helden nach und nach ihre Abgründe. Was lernen Sie beim Schreiben über sich selbst?
Wenn ich schreibe, entdecke ich Schritt für Schritt meine eigenen blinden Flecken. Ich selbst zum Beispiel habe noch kleine Kinder. Als ich einer Freundin, deren Kinder bereits im Teenager-Alter sind, ein Kapitel von »Wo der Wolf lauert« zu lesen gab, sagte sie mir: »Du hast nichts über den strengen Teenager-Geruch geschrieben.« Ich habe dadurch verstanden: Eine Mutter liebt und vergöttert ihre Kinder nicht nur, eine Mutter kann ihre Kinder auch als abstoßend wahrnehmen. Kinder sind nicht ewig die süßen kleinen Hundewelpen. Sie werden erwachsen – und das ist ihre Aufgabe.
Oft sind Ihre Helden Außenseiter. Was mögen Sie an ihnen?
Ich schreibe über sie, weil ich mich damit auskenne. Manchmal fühle ich mich als Außenseiterin in meiner eigenen Familie, ich fühlte mich außen vor in der Schule. Vielleicht ist das eine Kernerfahrung von Schriftstellern. Wenn man sich total fit fürs Leben fühlt, dann lebt man es einfach. Wenn man hingegen in der Ecke des Raumes steht und alles darin beobachtet, ist genau das essenziell fürs Schreiben. Lilach ist Israelin und fühlt sich als Außenseiterin in Amerika. Aber als sie nach Israel zurückkehrt, fühlt sie sich dort fremd. Vielleicht steckt in jedem von uns ein Außenseiter – nur entdecken wir das nie. Vielmehr schreiben wir das Außenseitersein anderen zu.
Sie sprachen von der Kluft zwischen dem, wer wir sind, und dem, wer wir sein wollen. Welche ethischen Kernfragen sollten wir uns stellen, um ein besserer Mensch zu sein?
Die wichtigste Frage für mich ist: Welchen Teil meiner eigenen Verantwortung verleugne ich? Wir alle neigen zu bestimmten Narrativen, ob als Individuen oder Nationen. »Wir sind Opfer, die anderen sind die Wölfe« – das ist die Grundtendenz. Verantwortung zu übernehmen für die eigenen Aggressionen, zu den Anteilen in uns zu stehen, die uns in weniger gutem Licht zeigen – als Menschen wie als Nationen. Denn die guten Anteile anzuerkennen, ist leicht. Sich hingegen dafür zu entscheiden, über das zu reden, was wir am liebsten vermeiden oder verdrängen, ist harte Arbeit. Das gilt ebenso für die Therapie wie für ein moralisches Leben – und für Literatur.
Mit der Schriftstellerin und Psychotherapeutin sprach Katharina Schmidt-Hirschfelder.