Der 27. Oktober 2020 war für die Mannheimer Feuerwehr ein ganz besonderes Datum, denn an diesem Tag wurde eine viertägige Ausstellung eröffnet, in der es um ihre Geschichte während der NS-Zeit ging. Das Spezielle dabei: Die Feuerwehrleute selbst hatten diese Geschichte mithilfe des Historikers Clemens Tangerding erforscht. In der Ausstellung zeigten sie nicht nur die Gleichschaltung der Wehren, sondern auch deren Auswirkungen.
Lion Wohlgemuth, ein Mannheimer Hutfabrikant, war zum Beispiel voller Begeisterung freiwilliger Feuerwehrmann gewesen. Überliefert ist, dass er seit 1913 mit Spenden zum Erfolg des alljährlichen Balls beitrug. Als er 1933 von der Feuerwehr ausgeschlossen wurde, weil er Jude war, zerbrach er daran, wie Clemens Tangerding berichtet. »Jetzt habe ich nichts mehr, was mich auf dieser Welt hält«, sagte Wohlgemuth damals. Die Uniform, die er so gern getragen hatte, gab er nur widerstrebend ab. Fünf Jahre später nahm er sich das Leben.
AUSSTELLUNG Die Ausstellung, über die auch überregional berichtet wurde, war trotz der pandemiebedingten Einschränkungen ein großer Erfolg, die Mannheimer SPD forderte Ende vergangener Woche die Stadt auf, sie im nächsten Jahr erneut zu zeigen und damit einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Und sie lobte das Engagement der Feuerwehrleute, die »selbst in die Archive gingen und recherchierten«, wie Clemens Tangerding betont.
Die Justus-Liebig-Universität Gießen unterstützte das Projekt.
Mit »Nächster Einsatz: Ihre Geschichte« war der Flyer überschrieben, in dem Angehörige der Freiwilligen Feuerwehr im vergangenen Jahr erstmalig eingeladen wurden, sich am Projekt »Feuerwehren in der NS-Zeit« zu beteiligen. Das Deutsche Feuerwehr-Museum in Fulda, der Deutsche Feuerwehrverband sowie die Justus-Liebig-Universität in Gießen boten interessierten Feuerwehrleuten die Möglichkeit, von Fachleuten unterstützt ein halbes Jahr lang bei sich vor Ort die Auswirkungen des Nationalsozialismus auf ihre Wehr und die damaligen Einsätze zu recherchieren.
Ausstellung Am Ende des vom Bundesinnenministerium geförderten Programms sollten die Teilnehmer, unterstützt von Experten, ihre Ergebnisse wahlweise in einer Ausstellung, einer gedruckten Broschüre oder auf einer Webseite vorstellen und damit dazu beitragen, nach und nach die Geschichte der Freiwilligen Feuerwehren in Deutschland während der Nazizeit aufzuarbeiten.
Der Ausbruch der Corona-Pandemie hatte jedoch auch auf dieses Projekt Auswirkungen. Einige Monate lang musste es pausieren. Videokonferenzen und Online-Workshops wären nämlich kein adäquater Ersatz für das gewesen, was fester Bestandteil des Aufarbeitungsprojekts ist: lokale Workshops unter Leitung des Historikers Clemens Tangerding von der Uni Gießen.
»Ich fahre im Rahmen des Projekts viermal zu den jeweiligen Feuerwehrleuten«, hatte Tangerding gegenüber der Jüdischen Allgemeinen das Konzept beschrieben, als die Auswirkungen der Pandemie noch nicht absehbar waren. »Voraussetzung für die Teilnahme sollte nämlich ganz bewusst nicht sein, dass die Leute Kurse in Akademien besuchen, nein, alles soll genau an dem Ort stattfinden, an dem die Vergangenheit, für die sie sich interessieren, auch stattgefunden hat.«
ARBEITSPRINZIP Das Arbeitsprinzip ist einfach: Im ersten Workshop berichten die Teilnehmer über das, was ihnen bereits über die NS-Zeit in ihrer Stadt bekannt ist. Gemeinsam mit Tangerding sammeln sie Ideen, welche Aspekte sich konkret zur Recherche anbieten würden. »Ich weiß nie vorab, was die Feuerwehrleute konkret vorhaben«, beschreibt der Historiker den Ansatz des Projekts. »Wir überlegen gemeinsam, was wir machen – den Leuten soll nichts aufoktroyiert werden.« Tangerding erklärt den Teilnehmern dann, wie man in Archiven arbeitet, alte Briefe entziffert, wie Recherche geht – und hat umgekehrt sehr viel über die Feuerwehrarbeit gelernt. »Respekt vor diesem ehrenamtlichen Einsatz gehört unbedingt dazu. Wir danken den Leuten auch bei jeder Veranstaltung, das gehört ganz unbedingt dazu.«
Vier Freiwillige Feuerwehren aus Mannheim, Marburg, Schwedt/Oder und Dömitz waren für das Pilotprojekt ausgewählt worden. »Rührend und erstaunend« sei der erste Workshop in Dömitz, einem kleinen Ort in Mecklenburg-Vorpommern, gewesen, erinnert sich Clemens Tangerding. »25 Leute im Alter zwischen acht und 80 waren gekommen, bei einer Gesamteinwohnerzahl von etwas mehr als 3000 ist das schon eine beeindruckende Teilnehmerzahl.« Trotz des großen Altersunterschieds seien alle eingebunden worden, »die ganz Kleinen reden beispielsweise mit den Senioren im örtlichen Altersheim, um hautnah zu erfahren, wie sie die Vergangenheit erlebt haben«.
Auf der Webseite der Schwedter Feuerwehr wurden die Einwohner gebeten, alte Fotos, Briefe, Unterlagen und Erinnerungen beizusteuern. Quellenmaterial aus den Jahren 1933 bis 1945 ist nämlich kaum noch vorhanden, was die Arbeit für die Schwedter Feuerwehrleute erschwerte.
AUFARBEITUNG Normalerweise ist Aufarbeitung Expertensache. Unternehmen und Institutionen beauftragen Historiker, die ihre Ergebnisse dann später vorlegen. »Wenn man an der Aufarbeitung der NS-Zeit im eigenen Ort beteiligt wird, kann man auch die daraus resultierenden demokratischen Werte besser vertreten«, findet Clemens Tangerding.
Der Historiker ist jedenfalls von der Arbeitsweise der Feuerwehrleute beeindruckt: »Sie haben eine hohe Bereitschaft, Neues auszuprobieren. Und gehen bei der Aufarbeitung der NS-Zeit genau wie in ihren Einsätzen sehr zielorientiert vor – sie sammeln Informationen und entscheiden dann, was gemacht wird.« Tangerding lacht: »In der akademischen Welt, aus der ich komme, ist das anders, da wird erst lang und breit diskutiert und dann eventuell gehandelt.«
Die Erfahrungen aus dem Feuerwehr-Projekt könnten überdies auch bei weiteren lokalgeschichtlichen Aufarbeitungen helfen. »Es gibt noch keine der sozusagen urdeutschen Institutionen, die ihre NS-Geschichte aufgearbeitet hat«, betont er. »Unternehmen ja, Verbände und Bundesligaklubs auch ja, aber die Aufarbeitung in den Kirchengemeinden, Schützenvereinen, Amateur-Fußballvereinen steht noch aus.«
Das Projekt »Feuerwehren in der NS-Zeit« hat einen Instagram-Account, auf dem Clemens Tangerding regelmäßig über Neuigkeiten berichtet.