Mit »Ma’im Rabim« (»Many Waters«) spielt das Israel Philharmonic Orchestra unter Lahav Shani am 4. September beim Musikfest Berlin in der Philharmonie auch ein neu überarbeitetes Werk der Komponistin Betty Olivero. Darin fleht eine Frauenstimme mit Texten aus den Sukkot-»Hoschanot« um die Gnade der »Vielen Wasser« – das lebensnotwendige Element, das sich im Übermaß so furchtbar und zerstörerisch auswirkt, dass, dem ebenfalls zitierten Hohelied zufolge, nur die Liebe mächtiger ist. Olivero unterstützt das Anliegen der Sängerin durch ein großes Orchester mit mächtigen Akkorden und Paukenschlägen, stellt ihr aber zugleich aus Lautsprechern ein digitales, künstliches Echo zur Seite (von dem man nie weiß, ob es als Erhörung oder Verspottung zu werten ist), gegen das die Sängerin hartnäckig, sich ständig steigernd, ansingt. Die Wirkung ist fulminant: Unser Autor Stephen Tree hat eine Probe in Tel Aviv besucht und mit Betty Olivero gesprochen.
Frau Olivero, Ihre offizielle Biografie zeichnet den Weg einer hochbegabten Konservatoriums-Studentin zu einer wichtigen Komponistin nach. Wie ist es dazu gekommen?
Meine Mutter war eine begabte Sängerin, die nie professionell gesungen hat. Sie hat einfach gern und wunderschön gesungen; ich glaube, ich habe sie singen hören, seit ich zum ersten Mal die Augen aufschlug. Deshalb ist Musik für mich Gesang, bei jedem Instrument, auch beim Schlagzeug. Mein Vater hat Gitarre gespielt, aber nicht professionell. Beide kamen aus Griechenland und waren Sefarden. Zu Hause sprachen sie Judeo-Spanisch, Ladino. Eine für mein Empfinden melodische, ausdrucksstarke, lyrische Sprache, die zugleich mediterran und orientalisch ist, mit arabischen und türkischen Bezügen. Die Sanftheit dieses Klanges hat meine musikalische Welt stark beeinflusst.
Haben Ihre Eltern Sie aufgefordert, ein Instrument zu lernen?
Ich wurde 1954 geboren, Israel war gerade einmal sechs Jahre alt. Die Bevölkerung von Tel Aviv war klein, die Beziehungen zu den Nachbarn eng. Neben uns wohnte eine Dame, die ein Klavier besaß, auf dem sie ab und an spielte. Das liebte ich sehr und fragte meine Mutter jedes Mal: »Darf ich zu ihr?« Dann bat ich um ein eigenes Klavier, woraufhin – wir waren keine reichen Leute – meine Eltern mir ein kleines Spielzeugklavier kauften, das ich dann unter dem Arm zu meiner Klavierlehrerin trug. Als sie dann merkten, dass es mir ernst war, haben sie mir ein richtiges Blüthner-Piano gekauft, auf dem ich arbeitete, bis ich zum Studium ins Ausland ging. Ich habe die Musik, die ich gespielt habe, sehr gemocht, aber ich wollte noch mehr haben, deswegen habe ich dann selbst welche geschrieben. Musik war mein Lebenselement, wie Atmen, etwas ganz Selbstverständliches. Ein Teil meiner Kinderspiele. Ich unterschied nicht zwischen den Puppen, die ich geschenkt bekam, und meinem Klavier – oder irgendeinem anderen Instrument. Je mehr, desto besser.
Wann haben Sie beschlossen, ausgerechnet Komponistin zu werden?
Ich hatte nie das Gefühl, dass es einen Unterschied zwischen mir und einem männlichen Musiker gibt. Ich wollte einfach nur Musik machen. Als dann ständig die Frage nach der Komponistin gestellt wurde, habe ich nachgedacht und begriffen, dass ich mich beim Komponieren weder als Frau noch als Mann fühle. Es ist wie eine andere Bewusstseinsebene, ein anderes »Ich«, das nicht geschlechtsdefiniert ist.
Sie haben ein profundes Wissen über jüdische Tradition, jüdische Schriften, Bibelverse, wissen, wo sie hingehören, wie sie zusammenhängen ...
Ob ich ein profundes Wissen habe, weiß ich nicht, aber jüdische Philosophie, jüdische Tradition gehören zu meinen Hauptinteressen, im Sinne eines Interesses für ursprüngliches jüdisches Denken. Ebenso wie für kabbalistische Texte. Ich studiere ernsthaft die Kabbala. Nicht die »praktische Kabbala« im Sinne von »wenn man dies tut, passiert das«, sondern die ursprüngliche kabbalistische Philosophie: deren PaRDeS-Abstufung, beginnend mit dem »Pschat«, dem einfachen Text. Über dem der »Remes« steht, der Hinweis auf das, was dahintersteckt. »Drasch« ist dann das, was man selbst in den Text einbringt, indem man den Text provoziert und befragt, wobei »Drasch« mit Befehlen, Befragen zusammenhängt. Und als Letztes das »Sod«, das verborgene Geheimnis, als Tiefstes, das nicht jedem offensteht.
Und wie tritt dabei die Komponistin in Erscheinung?
Die Komponistin erscheint, indem sie den Vorgang der Schöpfung begreift und nachvollzieht. Als Erstes kommt die Idee. Bevor diese überhaupt in Worte oder sonst wie gefasst werden kann, ist sie gestaltlos, im Tohuwabohu, ein Abstraktum, das in Noten gesetzt, das heißt organisiert, strukturiert und vermittelt werden muss, damit sie dann als Musik, durch Musiker, an den Hörer weitergeleitet werden kann. Worauf ein weiterer Prozess beginnt, bei dem der Zuhörer selbst sich öffnen und schöpferisch tätig werden muss, denn ohne ihn, ohne sein Bewusstsein, passiert nichts. Letztlich geht jede Schöpfung von unserem Bewusstsein aus. All die unglaublichen Dinge, die wir für wirklich halten, wären ohne unsere Vorstellung von ihnen gar nicht da. Und genau darum geht es in der Musik und in der Kunst. Es gibt nicht nur die kompositorische Idee, sondern auch den Zuhörer, ohne den diese gar nicht existieren würde. Jedes Musikstück, jedes Kunstwerk, mit dem man konfrontiert wird, soll etwas bewirken und etwas verändern. Sonst kann man sich gemeinsam hinsetzen und eine Tasse Kaffee und ein Stück Kuchen genießen, was auch nett ist. Aber nicht der Sinn eines Konzerts.
Sie haben eine Begleitmusik zum Stummfilm »Der Golem« von 1920 geschrieben, für den Klezmer-Klarinettisten Giora Feidman, dessen Instrument in Ihrem Werk einen wichtigen Platz einnimmt.
Die Klarinette von Giora Feidman ist einzigartig. Man hört sie sogar, oder vielmehr hört »etwas«, selbst wenn er gar nicht spielt; er hat etwas sehr Spirituelles. Seit ich 15 Jahre alt war, seit ich diesen Film zum ersten Mal gesehen habe, wusste ich, dass ich eines Tages etwas dazu komponieren würde – ich habe alles über die Golem-Legende gelesen und mit 16 als Sängerin an einer Golem-Jugendtheateraufführung teilgenommen, mit der wir sogar nach Berlin eingeladen wurden. Als ich den Film dann wieder sah, habe ich gleich die Musik gehört. Entsprechend der Machart des Stummfilms sind die Schauspieler in all ihren Bewegungen, ihrem Kommen und Gehen, sehr expressiv und agieren in einer faszinierenden Licht- und Schattenwelt. Der Film kam mir vor wie ein lebendiges Rembrandt-Gemälde – da brauchte ich mir nur noch vorzustellen, dass Giora Feidman die Klarinette spielt, und die Musik schrieb sich wie von selbst.
Sind Sie religiös?
Ich gehe gern in die Synagoge, weil ich dort sehe, wie sich Menschen ernsthaft, absichtlich und mit ganzem Herzen in etwas einbringen. Wenn man an den Hohen Feiertagen dort ist, sieht man diese starke Energie. Ich bin in einem tragischen Moment meines Lebens in einer Synagoge unter Menschen gewesen, die für etwas beteten, das in meiner Familie passiert ist, und hatte dabei das Gefühl: »Niemand hört zu«, »niemand ist da«. Jedenfalls niemand, der Ohren in unserem Sinne hat. Was all diese Menschen, die so sehr bestrebt waren, zu beten und zu bitten, um die Realität zu verändern, nur noch beeindruckender machte. Als Einsicht, dass es vielleicht etwas gibt, das größer ist als das, was wir glauben, verstehen zu können. Für mich war das eine sehr starke Botschaft.
Mit der israelischen Komponistin sprach Stephen Tree.