Auf einer Party beginnt Abe Rivkin eine Affäre mit der Tochter seines Kompagnons. »In ihrer Hand trug sie ein Tablett mit Datteln, die von einem zarten Mantel aus Speck umhüllt waren. ... Sie drückte das Tablett an seine Lende, als sie sich vorbeugte, um ihm etwas ins Ohr zu flüstern. L’schana tova. … Dann ging alles sehr schnell.«
Eine verbotene Affäre – ausgerechnet in den Tagen zwischen Rosch Haschana und Jom Kippur, in denen Gott über die Menschen Gericht hält! »Abe Rivkin war, trotz all seiner Mängel, ein Mann, der ungern falsch handelte. Letzten Endes war er ein Geschäftsmann, und dies, das wusste er, war ein schlechtes Geschäft.«
abgründe Um Ideale und das sogenannte wahre Leben geht es in Stuart Nadlers Erzählband Das Buch des Lebens. Es erschien bereits 2011 in Amerika und liegt jetzt auch auf Deutsch vor. In sieben Geschichten erzählt Nadler von Liebe und Versuchung, Familie und menschlichen Abgründen: Da ist Catherine, die vor Eifersucht verglüht, weil sich ihr Mann, ein Bildhauer, im Atelier mit nackten Modellen trifft. Oder Johnny, der seinen Vater, einen Schoa-Überlebenden, jahrelang nicht besucht, weil der ihm mit der Gabel in den Arm geritzt und danach in die Wunde gespuckt hat. Oder Daniel, der nach dem tödlichen Unfall seiner Eltern beim Großvater leben muss, der ihm so unglaublich fremd ist.
Ganz anders als die Protagonisten untereinander kennt Stuart Nadler seine Figuren derart gut, als würde er mit ihnen zusammenleben. Er zeichnet sie mit all ihren Schwächen. In Amerika wird er dafür sehr gelobt. So schrieb der »New Yorker«: »Mit großem Können erschafft Nadler Figuren, die gerade in ihren Verfehlungen auf ebenso komische und anrührende Weise menschlich werden.«
Sein Können hat Nadler mehrere literarische Auszeichnungen eingebracht. Er wurde unter anderem von der National Book Foundation zu einem der besten fünf Autoren unter 35 Jahren gekürt und erhielt das Truman Capote Fellowship. Sein Debütroman Wise Men (deutsch: Ein verhängnisvoller Sommer, 2014) wurde von der Kritik begeistert aufgenommen.
rückblenden Auch in technischer Hinsicht ist Nadler ein Meister. Großartig gelingt es ihm, in zwei Erzählsträngen zu schreiben. Dies erlaubt ihm Rückblenden, um Ereignisse aus der Jugend seiner Protagonisten in die Geschichten einzuflechten. So begegnet der Leser in der Erzählung Mondlandung den ungleichen Brüdern David und Charlie, die nach dem Tod ihrer Eltern deren Haushalt auflösen. In Rückblenden lernt der Leser die alkoholkranke Mutter kennen, die den kleinen David einst allein im Park zurückließ.
Grandios sind einige von Nadlers ersten Sätzen. Hat man eine Erzählung zu Ende gelesen, sollte man sich gut überlegen, ob man wirklich die Zeit hat, gleich mit der nächsten zu beginnen. Denn einmal angefangen, kommt man kaum wieder davon los: »Meine Mutter starb als Erstes« oder »In seiner Hemdtasche steckte das letzte Foto, das er von seinem Sohn gemacht hatte« – wer diese Sätze gelesen hat, kann das Buch nicht einfach beiseite legen. Man spürt bereits bei diesen ersten Worten, welch tiefe Melancholie die Erzählungen durchzieht. Doch Nadler setzt dem Schmerz eine gehörige Portion Humor zu. Vielleicht liegt genau darin sein Erfolgsgeheimnis.
Stuart Nadler: »Das Buch des Lebens«. Storys. Deutsch von Andreas Becker. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2015, 272 S., 19,99 €