Ein Stück deutsch-jüdischer Familien-Archäologie wie selten eines: Da tastet und forscht sich der Autor Christoph Schmidt, »deutscher« Professor mit christlichem Vornamen an der Hebräischen Universität in Jerusalem, zurück in seine ihm selbst jahrzehntelang unbekannte, verschwiegene und vergessene deutsch-jüdische Familiengeschichte.
Die Suche wird initiiert durch Nachlass-Papiere seines »arischen« Juristen-Großvaters Walter Schmidt, der 1943 durch Fälschung von Zeugnissen seine jüdische Ehefrau Hilde, geborene Meyer, und seine Kinder vor der Deportation bewahrt hatte.
TAUFE Danach stößt Schmidt über diese getaufte jüdische Großmutter auf die Familien-Saga einer der ältesten und berühmtesten jüdischen Familien Berlins. Seine Vorfahren kamen 1671 bei der Wiederansiedlung von Wiener Juden durch den Großen Kurfürsten nach Berlin; er ist mit dem ersten Berliner Rabbiner Model Halevi Riess verwandt. Dessen Sohn Elias Wiener Riess war der Schwager der Glückel von Hameln, in deren Lebenserinnerungen er beschrieben wird, und erwirkte mit seinen Brüdern die Genehmigung zum Bau der ersten Berliner Synagoge in der Heidereutergasse im Jahr 1714.
Wohlhabend wurde die Familie, als der Bankier Abraham Meyer Jaffe, verheiratet mit einer Henriette Riess, um die Mitte des 18. Jahrhunderts in den Seidenhandel einstieg, welcher die Meyer-Dynastie zu einer der wichtigsten jüdischen Familien Berlins machte.
Bismarck kam zur Einweihung der Synagoge Oranienburger Straße, und ein Meyer hat ihn dort begrüßt.
Joel Wolff Meyer wurde Preußischer Konsistorialrat und Vorsteher der Jüdischen Gemeinde zu Berlin, sein Sohn, der Justizrat Siegmund Joel Meyer, war Vorsitzender der jüdischen Reformgemeinde Berlins, Mitbegründer der 1872 eröffneten Hochschule für die Wissenschaft des Judentums, und er saß im Vorstand der prachtvollen, 1859 bis 1866 im orientalischen Stil errichteten Neuen Synagoge in der Oranienburger Straße, damals mit 3000 Sitzplätzen die größte Synagoge Europas.
Kurzum: Im Kaiserreich stand die liberal-jüdische, wissenschaftsfreundliche, sozial tätige und in der Gemeindehierarchie bestens vertretene Großfamilie Meyer für »jüdische Aristokratie« in Preußen.
KONVERSION Im Fin de siècle kommt es dann schlimmer als bei den Buddenbrocks: Erste Meyers konvertieren, um postwendend Professor zu werden, andere gehen, entgegen der innerjüdischen, dynastischen Heiratspolitik vergangener Generationen, Liebesheiraten mit Christinnen ein. Künstlerische Sezession, Nietzsche, die Jugendbewegung, Selbstmorde, erotische Seitensprünge und Doppelleben tun ein Übriges: In der vom frommen Gemeinde-Vorsteher Joel Meyer Wolff 1843 am Tiergarten errichteten Schlossvilla der Familie prallen religiöse Traditionen und Jugendstil, sexueller Libertinismus unter Cousins und Cousinen und Schabbatfeiern, politischer Liberalismus und künstlerische Avantgarde aufeinander und auseinander.
Nach dem Ersten Weltkrieg verschwindet mit dem Wilhelminismus auch die Allianz von Thron und Tora, die Bedeutung der Familie Meyer für die jüdische Gemeinde schwindet, die Schlossvilla, das titelgebende »zauberhafte Haus«, wird im Zweiten Weltkrieg zerstört. Die Familie Meyer, die ganze getaufte wie nicht getaufte Verwandtschaft, wird Opfer der Nürnberger Gesetze und zumeist ins Exil gezwungen, einige Familienmitglieder werden deportiert und ermordet.
Christoph Schmidt erzählt diese Familiensaga nicht chronologisch, sondern eher filmisch: In dokumentarischen Rückblenden mit analytischen Einschüben wie aus dem Off erzählt er seine Suche nach der Familiengeschichte, die mit dem Tod seines Vaters einsetzt, der im hohen Alter zum Judentum zurückfand und im Altersheim der Jüdischen Gemeinde Düsseldorf lebte.
In einem dieser Einschübe wehrt er sich gegen das in der gängigen Historiografie, namentlich durch Gershom Scholem vertretene Deutungsmuster, diese seine Familiengeschichte mit dem kometenhaften ökonomischen Aufstieg, der liberalen, weltoffenen, kaisertreuen Glanzzeit und dem Untergang der Familie Meyer im Faschismus versinnbildliche einmal mehr das Scheitern der »deutsch-jüdischen Symbiose« und die Selbstauflösung des liberalen Judentums durch Assimilation bis hin zum Untergang in der Schoa.
ASSIMILATION Für Schmidt hat diese zionistisch geprägte Historiografie zwei entscheidende Denkfehler: Erstens ist die Assimilation kein einseitiger, sondern ein beidseitiger Prozess. Es haben sich nicht einfach deutsche Jüdinnen und Juden bis zur Selbstverleugnung verbogen und ans Deutsch-Christliche angepasst, sondern es haben auch das christliche Bürgertum und sogar der Hof von der jüdischen Elite gelernt, profitiert, sich soziokulturell angenähert: Die jüdische Wissenschaftsförderung und das Mäzenatentum, aber auch die Sozialfürsorge für die Armen waren beispielhaft und wurden kopiert. In den »Mischehen« der Familie Meyer haben sich Christen dem jüdischen Milieu assimiliert und kamen an Schabbat zu Besuch.
Im Kaiserreich stand die liberal-jüdische, wissenschaftsfreundliche, sozial tätige und in der Gemeindehierarchie bestens vertretene Großfamilie Meyer für »jüdische Aristokratie« in Preußen.
Die Synagoge Oranienburger Straße wurde gezielt nicht im üblichen Stil der kirchlichen »deutschen« Gotik gebaut, sondern selbstbewusst im orientalischen Stil. Das war religiöse jüdische Selbstbehauptung in Form von Architektur. Trotzdem kam Bismarck zur Einweihung, und ein Meyer hat ihn dort begrüßt.
Wann hatte und hat es das in der jüdischen Geschichte je gegeben? Zweitens sind das liberale deutsche Judentum, die Reformgemeinden, die Wissenschaft des Judentums, die Ära der jüdischen Nobelpreisträger, der jüdischen Mäzene wie James Simon und der jüdischen Künstler wie Max Liebermann und Lovis Corinth nicht an sich selbst zugrunde gegangen, sondern wurden von außen und gewaltsam durch die Nazis zerstört. In England und in den USA hingegen haben sie Bestand und blühen.
SYMBIOSE Der von Scholem unterstellte Niedergang des liberalen Judentums durch »Entjudung« und Substanzverlust hat so nicht stattgefunden, der stolze Synagogenvorsteher Siegmund Joel Meyer war alles andere als ein Assimilant. Und ein kausaler historischer Nexus zwischen der sagenhaften religiösen und intellektuellen Entwicklung des liberalen Judentums in Deutschland, versinnbildlicht an der Familie Meyer, und dem politischen Triumph der Nazis besteht ohnehin nicht. Da waren ganz andere Kräfte und ein verlorener Weltkrieg am Werk.
Scholem hat unrecht, es gab diese liberale, aufgeklärte deutsch-jüdische Symbiose. Aber die Nachfahren der Meyer-Dynastie leben heute dennoch in Schottland, England, Deutschland und Israel verstreut. Sie haben mit ihren eigenen Erinnerungen zu Schmidts spannender Familiengeschichte beigetragen. Es fehlt ein Familienstammbaum. Der wäre allerdings noch umfangreicher als der der Mendelssohns.
Christoph Schmidt: »Meine Reise in das verzauberte Haus. Szenen aus der Geschichte einer deutsch-jüdischen Familie«. Shaker Media, Düren 2022, 236 S., 16,90 €