Geschichte

Alles im Fluss

Vor allem jüngere Juden kommen in dem Sammelband zu Wort. Foto: PR

Geschichte

Alles im Fluss

Ein neuer Sammelband stellt die Frage, wie jüdisches Erinnern aussehen kann

von Ralf Balke  09.10.2017 11:52 Uhr

Erfahrungen sind immer individuell und keinesfalls statisch. Genau deshalb ist es problematisch, jüdisches Erinnern in der Singularform zu verhandeln. Dmitrij Belkin, Mitherausgeber des Sammelbands Neues Judentum – altes Erinnern? Zeiträume des Gedenkens und Referent beim Ernst Ludwig Ehrlich Studienwerk (ELES), verweist daher auch auf die »Pluralisierung der Erinnerungen«, die untrennbar mit der »Pluralisierung innerjüdischer Diskurse in Deutschland« verknüpft ist.

»Kann man von tradierten Kollektiverinnerungen sprechen, nachdem sich die jüdische Gemeinschaft seit 1990 durch die Einwanderung von rund einer Viertelmillion Jüdinnen und Juden aus der ehemaligen Sowjetunion, der sogenannten Kontingentflüchtlinge (1990–2005), aber auch von Israelis, radikal verändert, ja erneuert hat?«

Narrative Diese Entwicklungen veränderten ebenfalls die auf den Holocaust bezogenen jüdischen Narrative, die bis zum Ende der alten Bundesrepublik vor allem durch die Gründergeneration nach 1945 dominiert waren. Fortan rückten russisch-sowjetische Erfahrungen stärker in den Vordergrund.

»Der Holocaust lässt sich nicht nur unter der in Deutschland vertrauten Chiffre Auschwitz fassen, die ›Orte des Schreckens‹ waren in der UdSSR andere«, ergänzt die Literatur- und Kulturwissenschaftlerin Eva Lezzi, ebenfalls ELES-Referentin und Mitherausgeberin.

Diese heißen für sie auch Babi Jar, das symbolisch für die Massenerschießungen im Osten steht. Zudem ist es eine Generationenfrage, die die Dualität zwischen den »Alteingesessenen« und »Zugewanderten« sprengt und viele Perspektivenwechsel mit sich bringt. Und die sind beispielsweise davon geprägt, dass man als Kind oder Enkel von ehemaligen Angehörigen der Roten Armee zu den Siegern des Zweiten Weltkriegs gehört.

Ansatz Es sind denn auch vor allem jüngere Juden, die in dem Sammelband zu Wort kommen. So wie Yana Lemberska, Anna Schapiro, Yair Haendler oder Igor Mitchnik, der dafür plädiert, sich nicht nur mit den eigenen Traumata zu befassen, sondern einen multidirektionalen Ansatz zu denken, der andere Verbrechen an der Menschheit mit einbezieht. »Dieses gegenseitige Verständnis erscheint in Zeiten anhaltender Migrationsströme noch relevanter für künftiges Gedenken in der Bundesrepublik.«

Das Buch soll zugleich den Auftakt bilden für eine Schriftenreihe von ELES – ein ambitioniertes Projekt! Aber wie die Auswahl der Themen sowie der einzelnen Autoren belegt, hat es durchaus das Potenzial, sich in der Literatur über jüdische Diskurse hierzulande einen festen Platz zu erobern.

Dmitrij Belkin, Eva Lezzi und Lara Hensch (Hrsg.): »Neues Judentum – altes Erinnern? Zeiträume des Gedenkens«. Hentrich & Hentrich, Berlin 2017, 352 S., 29 €

Meinung

Der Missbrauch von Anne Frank und die Liebe zu toten Juden

In einem Potsdamer Museum stellt der Maler Costantino Ciervo das jüdische Mädchen mit einer Kufiya dar. So wird aus einem Schoa-Opfer eine universelle Mahnfigur, die vor allem eines leisten soll: die moralische Anklage Israels

von Daniel Neumann  21.12.2025

Film

Spannend, sinnlich, anspruchsvoll: »Der Medicus 2«

Nach zwölf Jahren kommt nun die Fortsetzung des Weltbestsellers ins Kino

von Peter Claus  21.12.2025

Gastbeitrag

Liebe Kolleginnen und Kollegen, warum schweigt ihr?

Jan Grabowski fragt die deutschen Historiker, warum sie es unwidersprochen stehen lassen, wenn ein Holocaust-Experte für seine Forschungsarbeit diskreditiert wird

von Jan Grabowski  21.12.2025

In eigener Sache

Die Jüdische Allgemeine erhält den »Tacheles-Preis«

Werteinitiative: Die Zeitung steht für Klartext, ordnet ein, widerspricht und ist eine Quelle der Inspiration und des Mutes für die jüdische Gemeinschaft

 21.12.2025

Glosse

Das kleine Glück

Was unsere Autorin Andrea Kiewel mit den Produkten der Berliner Bäckerei »Zeit für Brot« in Tel Aviv vereint

von Andrea Kiewel  20.12.2025

Aufgegabelt

Apfel-Beignets

Rezept der Woche

von Katrin Richter  20.12.2025

Glosse

Der Rest der Welt

Ab jetzt nur noch mit Print-Abo oder Es gibt viele Gründe, auf 2026 anzustoßen

von Katrin Richter  20.12.2025

Musik

Louis-Lewandowski-Festival hat begonnen

Der Komponist Louis Lewandowski hat im 19. Jahrhundert die jüdische Synagogenmusik reformiert. Daran erinnert bis Sonntag auch dieses Jahr ein kleines Festival

 18.12.2025

Geheimnisse & Geständnisse

Plotkes

Klatsch und Tratsch aus der jüdischen Welt

von Bettina Piper, Imanuel Marcus  18.12.2025