Frau Gorelik, nach zahlreichen Büchern für Erwachsene ist 2017 »Mehr Schwarz als Lila« entstanden, Ihr erstes »Jugendbuch« – es ist jetzt für den Deutschen Jugendliteraturpreis bei der Frankfurter Buchmesse nominiert. Hatten Sie den festen Plan, einmal für junge Leser und junge Leserinnen zu schreiben, oder hat sich das einfach so ergeben?
Ich hatte das tatsächlich fest vor. Ich wollte ein Jugendbuch schreiben. Bei mir selbst ist es ja so, dass ich bis heute immer noch wahnsinnig gerne Jugendliteratur lese und finde, dass es da unter den originär deutschen Titeln nicht so vieles gibt, was mir wirklich gefällt. Mich stört zum Beispiel oft die Sprache, die entweder sehr anbiedernd ist, weil sie so auf jugendlich macht, oder sie ist literarisch dermaßen überhöht, dass das mit Jugendliteratur nicht mehr viel zu tun hat. Was ich vorhatte, war, einen Jugendroman zu schreiben, der mir als Jugendlicher gefallen hätte, den ich aber auch heute noch gerne lesen würde. Wobei ich sagen muss: Es ist tatsächlich so, dass ich mich mit meinen 37 Jahren irgendwie immer noch wie 17 fühle. Ich glaube, ich bin emotional auf dem Stand einer 17-Jährigen, und vielleicht bleibt das ja auch so. Dieses Grundgefühl des Erwachsenwerdens mit den damit verbundenen Zweifeln, den Mauern, an die man ständig stößt, das ist mir bis heute sehr, sehr vertraut.
Ist Ihnen dieses Jugendbuch also leicht von der Hand gegangen?
Mich in diese spezielle Gefühlswelt der Jugendlichen hineinzudenken, war tatsächlich überhaupt kein Problem. Da war ich sofort mittendrin. Da bin ich einfach zu Hause. Was mir stattdessen ganz lange gefehlt hat, war die dafür passende Sprache. Ich wusste, was ich sagen wollte, wusste aber nicht, wie ich es sagen wollte. Die Sprache sollte dieses »Tschick«-Tempo haben. Das stand fest. Aber sie brauchte noch mehr, sollte Ausdruck sein von diesem ganz besonderen Lebensgefühl: Alles geschieht genau jetzt. Ein Danach gibt es nicht. Genauso wenig wie ein Davor. Alles ist ganz stark. Ganz intensiv. Man hat immer den schlimmsten Liebeskummer, weil es immer die allergrößte Liebe der Welt ist. Alles ist immer das Höchste. Das Größte. Da wollte ich hin. Die Sprache zu finden, die das transportieren würde, das hat mich wahnsinnig viel Zeit gekostet, viel Mühe und viele Zweifel. Ich erinnere mich noch ganz genau daran, wie ich einmal im Englischen Garten saß, wie ich da gelesen habe, was ich bis dahin geschrieben hatte. Ich habe alles an Ort und Stelle zerrissen, habe die Schnipsel in alle Winde zerstreut. »Vergiss es«, habe ich gedacht, »das wird sowieso nichts mehr.« Aber als die Sprache endlich da war, hatte ich wirklich einen Riesenspaß beim Schreiben, und es ging mir dann auch richtig schnell von der Hand. Ich wollte gar nicht mehr aufhören damit, sodass mir das Ende des Buches überhaupt nicht gelegen kam.
Und die Geschichte selbst, diese Grundidee, kreisend um einen »Tabubruch«, mit dessen Folgen die Jugendlichen in seiner Wucht nur schwer zurechtkamen? Wie wurde die geboren?
Na ja, es gibt ja verschiedene Grundideen in dem Buch. Ich hatte die alle irgendwo in meinem Kopf und ließ sie in »Mehr Schwarz als Lila« aufeinandertreffen. Da ist einmal die Außenseitergeschichte. Außenseiter halte ich einfach für die interessanteren Menschen. Außerdem kenne ich mich mit dem Außenseiter-Sein recht gut aus. Da ist zweitens die Dreierfreundschaft. Die stand auch schon relativ früh fest, weil ich auf keinen Fall so eine Zweierliebesgeschichte erzählen wollte. Was ebenfalls feststand, war, dass zur bloßen Coming-of-Age-Gefühlsszenerie, in der man sich ja vor allem um sich selbst dreht, noch ein größeres, übergeordnetes Thema stoßen sollte. Ich wollte sozusagen auch die Außenwelt mit einer eigenen Fragestellung einfließen lassen. Und da entschied ich mich für das Thema »Erinnerungskultur«, einfach, weil ich mich damit immer wieder beschäftigt habe.
Die Jugendlichen machen eine Klassenfahrt nach Auschwitz. Alex und Paul küssen sich auf dem Gelände der Gedenkstätte – »unter uns das grüne Gras, vor uns der Galgen«. Sie werden dabei fotografiert. Jemand stellt das Foto ins Netz ...
Es ging mir beim Thema »Erinnerungskultur« darum, auch die Perspektive von Jugendlichen mitzudenken. Ohne allzu pädagogisch zu werden – das liegt mir im Grunde nämlich überhaupt nicht –, würde ich mir wünschen, dass man die Jugendlichen beim Thema Auschwitz in ihrem Heute, in ihrer eigenen Gefühlswelt abholt. Dass man Verbindungen schafft zwischen dem historischen Thema und der Gegenwart. Fluchterfahrung, Ausgrenzung, Ressentiments, Hass, das sind eben auch Begriffe aus unserer Gegenwart. Das müsste man unbedingt ansprechen, wenn es um die »Historie« geht, und man sollte eben nicht nur danach fragen, wann Hitler wo einmarschiert ist, oder wann welches Konzentrationslager wo gebaut worden ist.
Inwiefern kommt Auschwitz wirklich als geografischer, historischer, übermächtig symbolischer Ort in »Mehr Schwarz als Lila« vor? Oder ist Auschwitz hier vielmehr ein Ort, der sich für einen Tabubruch angeboten hat?
Auschwitz, so wie Sie es beschrieben haben, kommt sehr wohl vor in »Mehr Schwarz als Lila«. Für mich kommt es sehr deutlich vor. Und zwar vor allem in jenen Momenten, in denen Alex versucht, es irgendwie sprachlich zu fassen, und dann so Dinge sagt wie »Worte, wenige« oder »Das ist der Ort, an dem keine Entschuldigung gilt, und vielleicht ist es auch der Ort, an dem gar nichts gilt«. Die Entsprachlichung des Daseins ist für mich ein stärkeres Vorkommen als eine tatsächliche Beschreibung des Ortes Auschwitz. Was den Tabubruch, den Sie angesprochen haben, anbelangt, meine ich, dass dieser Kuss an diesem Ort für Menschen, die tatsächlich im Konzentrationslager waren, etwas total Entwürdigendes hat. Für diese Menschen ist Auschwitz so etwas wie ein »heiliger« Ort. Jede Beurteilung der Situation von außen, von uns, empfinde ich als übergriffig. Das steht uns einfach nicht zu. Es gibt da so etwas wie eine Deutungshoheit, die man denen überlassen sollte, die wirklich in einem Konzentrationslager waren und überlebt haben. Zusätzlich muss man sagen, dass Auschwitz völlig frei ist von Rationalität. Wenn also jemand etwas als übergriffig oder entwürdigend empfindet, muss es dafür keine rationale Begründung geben. Weil es in Auschwitz nämlich keine rationale Begründung geben kann. Umso emotionaler aufgeladen ist natürlich alles, was auf diesem Boden passiert.
Wie erlebt ein jüdischer Jugendlicher Auschwitz? Wie ein nichtjüdischer? Sie sind Jüdin und beschreiben in »Mehr Schwarz als Lila« die Reaktion nichtjüdischer Jugendlicher. Mussten Sie sich dafür »verstellen«? Empfanden Sie den Perspektivwechsel als Herausforderung?
Sobald ich einen Text schreibe, bin ich Teil dessen, was meine Figuren erleben. Ich teile deren Emotionen, teile alles mit ihnen. Meine eigene Identität ist während des Schreibens so gut wie nicht vorhanden. Ich bin da nicht die Jüdin. Sobald ich schreibe, existieren ausschließlich die emotionalen Welten meiner Figuren. Identitätszuschreibungen finden nicht statt. Zu Ihrer Frage fällt mir aber gerade noch etwas ein. Ich bin, nachdem ich irgendwie nicht weitergekommen bin mit dem Text, mit einer Freundin nach Auschwitz gefahren. Der Deutschlandteil von »Mehr Schwarz als Lila« stand, aber dann steckte ich irgendwie fest. Als wir dann in Auschwitz waren, habe ich selbstverständlich auch die Jugendlichen um uns herum beobachtet, und es waren natürlich auch Gruppen aus Israel da. Und da habe ich interessanterweise festgestellt, dass – wären sie nicht an ihren Rucksäcken und den Fahnen zu erkennen gewesen – an deren Verhalten allein überhaupt nicht zu erkennen war, dass das eben jetzt jüdische Jugendliche waren. Da kam jetzt keine andere Art von Trauer auf, als das bei den anderen Gruppen der Fall gewesen ist. Die saßen alle recht entspannt im Gras und haben ihre Sandwiches gegessen und ihr Wasser getrunken.
Und dann nach der Reise – nach Auschwitz? Kamen Sie dann wieder in den Schreibfluss?
Oh, ja. Noch im Auto auf der Rückreise habe ich das Buch zu Ende geschrieben. Leider, denn ich wäre sehr gerne noch mit den dreien, Alex, Paul und Ratte, zusammengeblieben.
Mit der Schriftstellerin sprach Katrin Diehl.
Lena Gorelik wurde 1981 in Sankt Petersburg geboren und kam 1992 nach Deutschland, wo sie heute mit ihrer Familie in München lebt. Mit ihrem ersten Roman »Meine weißen Nächte« machte sie 2004 auf sich aufmerksam. »Hochzeit in Jerusalem« (2007) brachte ihr eine Nominierung für den Deutschen Buchpreis ein. »Mehr Schwarz als Lila« (2017), ihr erstes Jugendbuch, ist für den Deutschen Jugendliteraturpreis 2018 nominiert, der am 12. Oktober auf der Frankfurter Buchmesse vergeben wird. Das Buch konzentriert sich auf die nicht einfachen Beziehungen zwischen Alex, Paul und Nina – drei Schüler, die sich in ihrer Klasse gezielt in die intellektuelle Außenseiterecke verzogen haben. Zu ihnen stößt der Deutschreferendar Johnny. Die Dreiergruppe beginnt zu trudeln. Als es bei einer Klassenfahrt mitten auf dem Gelände des ehemaligen KZs Auschwitz zu einer Kussszene kommt und das Foto davon ins Internet gestellt wird, gerät die Welt der Jugendlichen ernsthaft ins Wanken. Im Moment schreibt Lena Gorelik »an etwas, was in keiner Weise als Jugendbuch bezeichnet werden kann«, und denkt über ein Kinderbuch nach. Sie hat selbst zwei Söhne, sechs und acht Jahre alt.