Meinung

Alles Einzelfälle?

Die Süddeutsche Zeitung und der Fall Igor Levit: Ein Offener Brief

von Philipp Peyman Engel  22.10.2020 15:49 Uhr

Philipp Peyman Engel, Chef vom Dienst bei der Jüdischen Allgemeinen Foto: Marco Limberg

Die Süddeutsche Zeitung und der Fall Igor Levit: Ein Offener Brief

von Philipp Peyman Engel  22.10.2020 15:49 Uhr

Liebe Kollegen,

vor mehr als 71 Jahren, um genau zu sein, am 10. August 1949, veröffentlichte eure Zeitung einen antisemitischen Leserbrief, der noch heute in großen Teilen der jüdischen Gemeinschaft sehr präsent ist. Er ist – wegen des schockierenden Inhalts, aber auch wegen der anschließenden Proteste Dutzender aufgebrachter Juden – zu einem Teil des jüdischen Gedächtnisses in Deutschland geworden.

Der Abdruck wird bis heute in Dissertationen thematisiert, zumeist als Beleg dafür, wie tief der Hass auf Juden auch nach der Schoa in den Köpfen der Menschen in Deutschland verankert war – und wie wenig Einfühlungsvermögen eure Vorgänger als Redakteure bei der Zeitung damals aufbringen konnten oder wollten.

PROBLEM Dieser Tage musste ich häufiger an diese Szene denken, die doch eigentlich ein Kapitel längst überwunden geglaubter Zeiten ist. Doch auch heute hätte die jüdische Gemeinschaft wieder allen Grund, auf die Straße zu gehen, um gegen eure Zeitung zu protestieren.

Liebe Kollegen, man muss es so deutlich sagen: Eure Redaktion hat ein Problem. Und zwar ein riesiges. Dieses Problem heißt Antisemitismus.

Viel Kritisches wurde in den vergangenen Tagen über euren Text »Igor Levit ist müde«, veröffentlicht am 16. Oktober, angemerkt. Zu Recht. Die Fassungslosigkeit in weiten Teilen des Feuilletons war groß, dass euer Autor Helmut Mauró einen jüdischen Musiker verhöhnen darf, weil dieser bekannt hat, angesichts der judenfeindlichen Angriffe in Deutschland schwinde seine Lebenslust.

Eine solche Schlagseite ist einer Qualitätszeitung, die doch eigentlich zu Recht zu den besten Blättern Deutschlands zählt, unwürdig.

Die Fassungslosigkeit war groß, dass Levit – der selbst immer wieder Zielscheibe antisemitischer Drohungen ist – in eurer Zeitung mit dem ungeheuerlichen Begriff »Opferanspruchsideologie« versehen werden darf. Die Fassungslosigkeit war groß, dass Levit in eurer Zeitung, die doch mit dem Slogan »Seien Sie anspruchsvoll« wirbt, unterstellt werden darf, er würde für sich ein »opfermoralisch begründbares Recht auf Hass und Verleumdung« in Anspruch nehmen.

BERICHTERSTATTUNG Mindestens ebenso skandalös, nach Empfinden von Igor Levit noch skandalöser als Maurós Text selbst, war die Erwiderung eures Chefredakteurs. Zuerst stellte er sich voll und ganz hinter den Text seines Autors. Einen Fehler könne er nicht erkennen. Mittlerweile hat sich eure Zeitung – mutmaßlich getrieben von der öffentlichen Kritik und wenig überzeugend – für den Text entschuldigt.

Doch damit ist es nicht getan. Das Problem bei eurer Zeitung reicht tiefer. Der antisemitisch konnotierte Artikel über Igor Levit ist keine Ausnahme. Ganz im Gegenteil. Schon ein kurzer Blick auf eure Berichterstattung der letzten Jahre macht das Problem überdeutlich.

Man muss es so deutlich sagen: Eure Redaktion hat ein Problem. Und zwar ein riesiges. Dieses Problem heißt Antisemitismus.

Wie kann es sein, dass eure Redaktion eine Karikatur des israelischen Premiers Benjamin Netanjahu veröffentlicht, die klar antisemitische Züge aufweist, was selbst ihr nach nicht abreißender Kritik einräumen musstet? Wie kann es sein, dass eure Zeitung eine Bildkomposition des Facebook-Chefs Mark Zuckerberg – als Krake mit Hakennase, Pejes und Tentakeln – druckt, die Leser an das NS-Hetzblatt »Der Stürmer« erinnerte?

Wie kann es sein, dass eure Zeitung einen Artikel zum Chaos am Mainzer Hauptbahnhof mit dem NS-Vernichtungslager Auschwitz bebildert? Die Zeile lautete: »Um die richtigen Weichen zu stellen, braucht die Bahn Personal«. Wolltet ihr dem Leser mitteilen, dass damals, als es noch genügend Personal gab und alles vorschriftsmäßig nach Plan lief, die Weichen richtig gestellt wurden?

ISRAEL Entschuldigt bitte, dass man euch das nicht ersparen kann, aber es geht direkt weiter: Wie kann es sein, dass der jüdische Staat in eurer Zeitung als gefräßiges Monster dargestellt wird? Wie kann es sein, dass Günter Grass bei euch sein Gedicht »Was gesagt werden muss« publizieren durfte, aus dem »der neue Antisemitismus aus dem Unterbewusstsein nur so quoll«, wie es der »Zeit«-Herausgeber – und ehemalige SZ-Außenpolitikchef – Josef Joffe ausdrückte? Es ließen sich noch zahlreiche andere Beispiele aufführen, aber ich glaube, ihr habt den Punkt verstanden.

Wie kann es sein, dass der jüdische Staat in eurer Zeitung als gefräßiges Monster dargestellt wird?

Im Journalismus heißt es, wenn es zweimal vorkommt, ist es kein Einzelfall mehr, sondern systemisch. Das ist Quatsch. Aber was würdet ihr als kritische Journalisten einem Politiker entgegen, der euch sagt, es ist »nur« ein Dutzend mal vorgekommen? Ab wie vielen antisemitischen Artikeln in einer Zeitung muss man von einem System sprechen?

Nach allem, was man in vertraulichen Gesprächen mit Mitarbeitern eurer Zeitung hört, sind dies Fragen, die auch bei euch Redakteuren kontrovers diskutiert werden. Und es sind Fragen, die ihr beantworten solltet. Denn jede antisemitische Äußerung ist eine zu viel. Erst recht bei einer Redaktion mit so vielen begnadet talentierten und ebenso engagierten wie couragierten Journalisten bei einer Qualitätszeitung, die doch eigentlich zu Recht zu den besten Zeitungen Deutschlands zählt.

engel@juedische-allgemeine.de

Kultur

Uraufführung des Oratoriums »Annes Passion«

Über die Darstellung von Anne Frank in veschiedenen Kunstformen streiten Historiker und Autoren seit mindestens 70 Jahren. Das Oratorium von Evgeni Orkin entfacht die Kontroverse neu

von Valentin Schmid  31.01.2025

Nachruf

Grande Dame des Pop: Marianne Faithfull ist tot

In den »Swinging Sixties« war sie Mick Jaggers schöne Freundin - eine Zuschreibung, mit der sie später oft haderte. Nach Schlagzeilen und Drogensucht gelang ihr die künstlerische Wiederauferstehung

von Werner Herpell  31.01.2025

Literatur

Liebe, Obsession und der Holocaust: Yael van der Woudens Debütroman erscheint auf Deutsch

Yael van der Woudens Romandebüt »In ihrem Haus« wurde von den Kritikern gelobt und für den renommierten Booker Prize nominiert

von Christiane Laudage  30.01.2025

Hollywood

Jüdische Oscar-Hoffnungen

Von Timothée Chalamet bis Mikey Madison: Wer diesmal für die Academy Awards nominiert ist

von Sophie Albers Ben Chamo  30.01.2025

Zahl der Woche

74 Prozent

Fun Facts und Wissenswertes

 29.01.2025

Ehrung

Historiker Dan Diner erhält Ludwig-Börne-Preis

Diner sei ganz im Sinne Börnes ein »Zeitschriftsteller«, so Daniel Cohn-Bendit

 29.01.2025

New York

Warum Amy Schumer ihr Kind nicht mehr zum Narren halten kann

Die amerikanische Komikerin hat einen fünfjährigen Sohn, der inzwischen lesen kann. Aber das findet die 43-jährige Mutter gar nicht so gut

 29.01.2025

Kino

Monumental verstörend

In seinem Epos »Der Brutalist« zerlegt Regisseur Brady Corbet den amerikanischen Traum

von Jens Balkenborg  29.01.2025

TV-Tipp

Paul Newman im Arte-Themenabend

Spielerdrama »Die Farbe des Geldes« und Doku über den US-Filmstar

 28.01.2025