Fast könnte es eine normale Essenseinladung sein. Die offene Küche mit Wohnzimmer ist elegant ausgeleuchtet mit Steh- und Hängelampen. Selbst auf dem Balkon glimmen zwei Leuchten unter beiden Stühlen. Doch auf dem großen Küchentisch warten keine Teller, sondern ein Laptop und ein Metronom; davor liegen zwei Bücherstapel auf dem Parkett. An diesem Abend laden Avi Kaiser und Sergio Antonino nicht zum Essen, sondern zum Tanzprojekt »At your Place« zu sich nach Hause ein.
Es ist eine intime Veranstaltung. Die beiden Künstler begrüßen jeden persönlich – Auftakt und Überleitung zur Nähe während des Tanzes. Avi und Sergio tanzen bis vor die Zehenspitzen, suchen Augenkontakt, berühren sachte Schuhe, binden das Publikum immer wieder behutsam mit ein. »80 Prozent der Performance stehen fest, nur wenn das Publikum für uns singt oder summt, wird es zur Improvisation«, erzählt der 42-jährige Sergio, der zusammen mit seinem 20 Jahre älteren Partner Avi Kaiser seit 15 Jahren in Duisburg mit dem Tanzraum »The Roof« auch beruflich ein erfolgreiches Team bildet.
rhythmisch Seit 2009 ist das israelisch-italienische Paar mehr als 100-mal in Duisburg, Tel Aviv, Jerusalem, Haifa, Bologna, Mailand, Florenz, Brüssel, Madrid und New York aufgetreten. Immer abseits von Bühnen, in privaten Wohnungen, Treppenhäusern oder Galerien. Nun haben die beiden Tänzer zum ersten Mal ein Publikum bei sich in Tel Aviv begrüßt. »Dabei ist bei uns verhältnismäßig viel Platz, wir sind auf viel weniger Raum ausgerichtet«, erzählt Avi Kaiser. Trotz Intimität hat das, was die beiden renommierten Tänzer zu Musik von Schuberts Winterreise und dem rhythmischen Klacken des Metronoms liefern, nichts mit Sexualität zu tun.
Der Tanz beginnt auf den beiden Buchstapeln. Zu Fremd bin ich eingezogen bauen sich die Tänzer einen Weg aus Büchern, gehen auf das Publikum zu, nur um sich umzudrehen und anschließend gemeinsam auf einem Buchstapel zu tanzen. »Schuberts Aspekt des Fremdseins passt auch zu uns, denn trotz 15 Jahren in Deutschland fühlen wir uns noch immer ein wenig fremd«, gibt Avi später zu. Es passe aber auch zur Überwindung, zur Nähe des Publikums, vor dessen Zehenspitzen sie tanzen.
»Es ist immer noch eine Herausforderung, so nah zu sein und gleichzeitig zu tanzen und sich zu konzentrieren«, ergänzt Sergio. In ihrem zeitgenössischen Tanzprojekt geht es darum, Fragen nach sich zu ziehen, ohne Antworten zu liefern. Dafür werden kurze poetische Einlagen auf Englisch, Hebräisch, Deutsch und Italienisch gesprochen. »Manchmal haben wir Tränen in den Augen, wenn wir hören, wie Menschen unsere Bewegungen verstehen«, erzählen die Tänzer.
geschichten Avi Kaiser und Sergio Antonino sind nicht die einzigen Künstler, die Deutschland und Israel langfristig verbinden, indem sie seit Jahren auf, neben oder hinter den Bühnen beider Länder stehen. Andere fest etablierte Künstler sind beispielsweise Yael Ronen, die Hausregisseurin des Berliner Maxim-Gorki-Theaters, die Schauspielerin Sara von Schwarze oder der Regisseur Avishai Milstein.
Sara von Schwarze ist in Israel eine Berühmtheit, in ihrer Tel Aviver Wohnung stehen mindestens fünf Auszeichnungen aus den letzten Jahren. In ihr Stück Zwischen den Welten, das in Tel Aviv, Stuttgart und Berlin aufgeführt wurde, hat sie ihr ganzes Herzblut eingebracht. Darin geht es um die Israelin Ruth, die glaubt, jemanden umgebracht zu haben und sich nach Jahren ohne Kontakt zu ihrem Vater Abraham und dessen neuer Freundin Sabine nach Deutschland flüchtet.
Zwischen den Welten basiert auf der Lebensgeschichte von Sara von Schwarze, die 1968 in München geboren wurde. Als sie drei Jahre alt war, konvertierten ihre Eltern zum Judentum und zogen nach Israel. Obwohl sie noch ein kleines Mädchen war, empfand sie ihren deutschen Namen und ihre bayerische Familie als Provokation. Jetzt ist der Erfolg von Zwischen den Welten wie eine Belohnung dafür, sich überwunden zu haben, die Lebensgeschichte aufzuarbeiten und auf der Bühne Deutsch zu sprechen. Wenn auch mit einigen Fehlern. »Ich kenne Deutsch in meinen Gefühlen, aber nicht in der Grammatik«, erklärt von Schwarze. Aber auch das passt zu ihrer Einstellung, dass man sich und seine Herkunft akzeptieren muss.
mischmasch Genau diesen Zwiespalt und den Umgang damit hat auch der israelische Dramaturg Avishai Milstein in seinem Herzensprojekt aufgegriffen. Love Hurts gastiert seit knapp einem Jahr am Badischen Staatstheater Karlsruhe und im Teatron Beit Lessin in Tel Aviv. Der 52-Jährige lässt auf Englisch, Deutsch, Hebräisch und in einem Sprachmischmasch zwölf Liebesgeschichten von Paaren aus beiden Ländern erzählen. »Es war ein riesiges deutsch-israelisches Rechercheprojekt«, erklärt der Regisseur, der für die Auswahl der Paare 80 Stunden lang Interviews geführt hat.
Der Sohn von Schoa-Überlebenden pflegt seit 30 Jahren eine Hassliebe zu Deutschland, erzählt er in fließendem Deutsch. Denn er sei »mit Geschichten über dieses große Übel aufgewachsen«. Jedoch sei ihm in Deutschland kein großes Übel über den Weg gelaufen. »Das war eine der wichtigsten Entlastungen, die ich je in meinem Leben hatte. Dieses Befreiungsgefühl bringt mich immer wieder hierhin«, sinniert er.
Über die Kunst haben Avishai Milstein, Sara von Schwarze, Avi Kaiser und Sergio Antonino den Weg in die Privatsphäre des deutsch-israelischen Publikums gefunden und sich selbst künstlerisch herausgefordert. Für Milstein lag zumindest ein Ansatz irgendwann klar auf der Hand: »Wenn man die deutsche Kultur leben oder erleben will, darf man sich nicht dauernd fragen: Was ist wichtiger, deutsche Kultur oder deutscher Antisemitismus?«