Erinnerung

Alles andere als selbstverständlich

Ulrich Sahm besuchte im Paris der 60er-Jahre die Schule. 50 Jahre später trifft er in Israel seine ehemalige Lehrerin wieder

von Ulrich Sahm  15.08.2020 22:18 Uhr

Klassenfoto von 1962: links sitzend (M.) die Lehrerin Beatrice Benaquin, rechts neben ihr sitzt die Schuldirektorin. Dazwischen steht der Autor.

Ulrich Sahm besuchte im Paris der 60er-Jahre die Schule. 50 Jahre später trifft er in Israel seine ehemalige Lehrerin wieder

von Ulrich Sahm  15.08.2020 22:18 Uhr

Arye Sharuz Shalicar hat in der Jüdischen Allgemeinen unter dem Titel »Nie wieder Opfer!« wunderbar dargestellt, wie wenig er als Kind in einer Ausstellung über Anne Frank begriffen hatte, was das mit ihm zu tun haben könnte: »… denn als Elfjähriger will man bei gutem Wetter draußen Fußball spielen und nicht auf einer bedrückenden Ausstellung abhängen.«

Mir ist etwas Ähnliches passiert, aber mit umgekehrten Vorzeichen. Im Alter von 14 Jahren besuchte ich die »Section Internationale« des Lycée de Sèvres in Paris.

Diplomat Mein Vater war Diplomat bei der NATO-Botschaft. Und anstatt mich in die deutsche Schule zu schicken, votierten meine Eltern für dieses Lycée. In meiner Schulklasse waren Kinder aus aller Welt, vor allem Amerikaner, aber auch Japaner, Nigerianer, Äthiopier und sogar sechs Israelis. Exotisch in diesem Kreis war lediglich der Ulrich.

Damals, knapp 20 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, war es nicht leicht, einziger Deutscher in einer französischen Schule zu sein. Weil die Kinder aus allen möglichen Ländern kamen, verlief der Unterricht teilweise zweisprachig, also auch auf Englisch. Zudem absolvierten fast alle Kinder Französischkurse, um die Landessprache zu erlernen.

Heute ist es vielleicht unvorstellbar, aber damals wurde dem einzigen Deutschen von den Franzosen dort immer wieder eine Hand ins Gesicht gestreckt, mit einem lauten »Heil Hitler!«. Der Hass auf alles Deutsche war groß und teilweise unerträglich. So passierte es, dass man als deutsches Diplomatenkind eben auch in die Rolle gedrängt wurde, »diplomatischer Vertreter« seines Landes zu sein.

Die israelischen Kinder wurden auf der internationalen Schule meine besten Freunde.

Interessanterweise wurden ausgerechnet die Israelis, ebenfalls Diplomatenkinder oder Kinder von Geheimdienstleuten, schnell meine besten Freunde. Die gluckten in den Schulpausen immer zusammen und redeten miteinander nur Hebräisch. Weil ich aber eben zu ihrer Clique gehörte, blieb mir nichts anderes übrig, als umgehend in den Schulpausen Hebräisch zu lernen, was mir sehr viel Spaß machte. Die Israelis beschützen ihren deutschen Kameraden auch vor den Anfeindungen durch die Franzosen.

ERNIEDRIGUNG Eines Tages erlebte ich wegen meiner deutschen Herkunft eine unvergessene Erniedrigung. Unsere Lehrerin war Beatrice Benaquin, eine ausgesprochen gut aussehende und imposante Frau. Entsprechend der Mode in den 50er-Jahren hatte sie ihre Haare hochtoupiert.

Sie unterrichtete uns in Geschichte, und ich liebte ihren Unterricht sehr, da sie über einen großartigen Schatz an archäologischem Wissen verfügte und die Zusammenhänge zwischen Religion, Geschichte und Kultur auf eine Weise darstellte, die in dem Jungen ein lebenslanges Interesse an diesen Inhalten weckte.

Eines Tages schlief ich aber trotzdem ausgerechnet während ihres Unterrichts ein. So was soll ja vorkommen, insbesondere, wenn man am Tag zuvor vielleicht lange bis in die Nacht wach geblieben war.

Madame Benaquin bemerkte es, weckte mich lautstark auf und sagte in ungewöhnlich strengem Ton:

»Wir reden gerade über ein Thema, das dich ganz besonders interessieren sollte …«

Ich fragte: »Worüber denn?« Und sie antwortete nur: »Anne Frank.« Ich fragte: »Kenne ich nicht. Wer ist denn das?«

Zu meiner Entschuldigung muss ich hier erwähnen, dass wir nur kurz in Deutschland waren, ehe mein Vater nach Paris versetzt wurde. Und zu Hause gab es damals kaum eine Gelegenheit, sich über Themen auszutauschen, die nicht unmittelbar mit der Familie zu tun hatten. Eingeschult hatte man mich in England, wo der Vater als Diplomat in London arbeitete.

Dass die Kameraden aus London den deutschen Jungen verprügelten und mobbten, schien ganz normal und wurde hingenommen, wie das Wetter. Zu Hause interessierte man sich im Wesentlichen für die Noten, und die waren ja so weit in Ordnung. Eine Platzwunde wurde genäht, und am nächsten Tag ging es wieder in den Unterricht.

Ich begriff nicht, warum meine verehrte Lehrerin auf einmal so wütend auf mich war.

Das Intermezzo in Deutschland verlief auch nicht viel glücklicher, weil der Junge, der da aus England kam, noch nicht einmal Fußball spielen konnte. Die Folge für die verpatzten Tore waren Klassenkeile: Ab in den Schwitzkasten, und jeder durfte einmal treten. Und nun also Frankreich. In Paris handelte es sich um eine Ganztagsschule.

Ich verließ das Haus morgens um acht und kehrte erst gegen 18 Uhr heim. Dann mussten noch Hausaufgaben geschafft werden, während die Eltern zu Cocktailpartys eingeladen waren. Die Wochenenden verbrachte ich glücklich bei den amerikanischen Pfadfindern. Anne Frank war für mich ein völlig unbekannter Name. Ich war also komplett verwirrt und begriff nicht im Mindesten, warum meine verehrte Lehrerin plötzlich so wütend auf mich war.

ANRUF Und jetzt muss ein weiter Bogen von etwa 50 Jahren gespannt werden. Nach dem Abitur reiste ich erstmals nach Israel, aber nicht wegen »Schuldgefühlen« oder der »deutschen Vergangenheit«. Mein erstes Ziel war schlicht, meine alten Klassenkameraden aus Paris zu besuchen.
Daraus wurde schließlich ein Studium der Hebräischen Sprache an der Universität in Jerusalem.

Dank intensiver Vortragstätigkeit ergab es sich, dass deutsche Journalisten zu Besuch in Israel mich baten, doch meine Erlebnisse »mal aufzuschreiben«. Und die wurden dann auch tatsächlich gedruckt. Nach kurzer Zeit holte ich mir dann schon einen Presseausweis und bin seitdem »Journalist«, mit Jerusalem als Wohnsitz.

Vor etwa einem Jahr erreichte mich ein sehr überraschender Anruf: Bernadette Benaquin, die Tochter meiner Lehrerin, rief aus Paris an und erzählte, dass ihre Mutter Israel besuchen wolle, »um ihre alten Schüler wiederzutreffen«.

Einige ihrer ehemaligen Schüler hatte es nach Israel verschlagen. Ich freute mich sehr und organisierte gerne in meiner Wohnung ein Abendessen zusammen mit einem weiteren Klassenkameraden.

Arye und ich haben einen Ort gefunden, an dem man unabhängig von seiner Herkunft akzeptiert wird.

Als sie kam und mich begrüßte, passierte dann das schiere Wunder. Meine verehrte alte Lehrerin entschuldigte sich förmlich für das »schandhafte Mobbing« vor der ganzen Klasse. Über Jahrzehnte hatte sie sich dafür geschämt, dass sie dem damals völlig unbedarften Schüler vorgehalten hatte, dass er doch gerade als Deutscher wissen müsste, wer Anne Frank war.

Die innere Größe dieser Lehrerpersönlichkeit, nach Jahrzehnten so eine einmalige Begebenheit anzusprechen, ist zutiefst beeindruckend. Es stellte sich heraus, dass sie ursprünglich eine ägyptische Jüdin war. Vor ihrer Flucht aus Ägypten 1956, als die meisten Juden infolge des Krieges mit Israel aus dem Land vertrieben wurden, hatte Madame Benaquin schon in Alexandria als Lehrerin an einer jüdischen Schule gearbeitet.

FREIHEIT »Ethnisches Mobbing« im Jugendalter kann jeden treffen, der aus irgendeinem Grund aus dem Rahmen fällt. Oft prägen solche Dinge den ganzen Lebensweg. Arye, der iranisch-jüdische Junge aus Berlin, hat trotz aller Hindernisse nicht nur eine erstaunliche Karriere hingelegt, sondern auch seinen Platz in der Welt gefunden.

Für ihn wurde Israel zur Heimat. Der deutsche Diplomatensohn, der nie irgendwo zu Hause war, lebt hier in Jerusalem einfach als Ulrich Sahm. Seit über 50 Jahren. Als Deutscher, als Gast, aber eben auch als Freund. Die Sprachen, die er in seinem Leben lernte, sind in Israel alle zu Hause.

Arye und ich könnten unterschiedlicher nicht sein. Doch wir haben beide im Laufe unseres Lebens gelernt, wie unendlich wertvoll so ein Ort ist, an dem man als Mensch unabhängig von seiner Herkunft akzeptiert wird. Ein Land, in dem man frei leben kann. Freiheit, ein Glück, das Anne Frank und viele andere jüdische Kinder nie erleben durften. Und das auch heute noch alles andere als selbstverständlich ist.

Der Autor ist Journalist sowie Nahost-Korrespondent und lebt in Jerusalem.

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