Glosse

Aller Anfang ist schön – besonders beim Lesen

Lesen? Kinderleicht und so wundervoll Foto: Getty Images

Meine Tochter feierte vor Kurzem ihren 7. Geburtstag und hatte sich ein paar Tage davor gleich selbst ein Geschenk gemacht. Sie lud ihre Freundinnen ganz altmodisch per Brief zu einer Pyjamaparty ein, und eine von ihnen antwortete ebenso altmodisch auf postalischem Weg. Das sorgte natürlich bei meiner Tochter für ein Strahlen in den Augen. »Ein Brief nur für mich, mit meinem Namen darauf«, las ich darin.

Schnell nahmen wir ihn aus dem Briefkasten. Kaum im Treppenhaus wollte sie ihn selbstverständlich vorgelesen bekommen. Später am Abend holte sie sich den Brief noch einmal, er lag natürlich immer noch auf dem Tisch.

Sie begann ihn laut zu lesen. Ganz alleine.

Sie begann ihn laut und langsam zu lesen. Ganz alleine. Wort für Wort. Ich musste ihr lediglich bei dem einen oder anderen Buchstaben helfen und beobachtete, wie sie, ein siebenjähriges Kind, das erst seit einigen Wochen in der Schule ist, diesen Brocken bezwang – oder positiv formuliert: wie sich ihr ein Text erschloss, der einen Sinn ergab. Der Brief war nicht mehr als sechs Zeilen lang. In Blockschrift geschrieben.

Konzentriert arbeitete sich meine Tochter durch diesen kurzen Text, bis sie am Schluss zum Namen ihrer Freundin, die den Brief unterschrieben hatte, gelangte.

Als sie fertig war, lag ein Zauber in der Luft. Es war genau der Moment, als in Sekundenbruchteilen ein ganzes Universum erschaffen wurde. Und sie realisierte es. Zum ersten Mal in ihrem Leben hatte sie soeben einen ganzen Text gelesen. Aus Zeichen wurden Buchstaben, aus Buchstaben Wörter, aus Wörtern Sätze und aus diesen ergab sich ein zusammenhängender Text.

Diesen Augenblick erlebt jeder Mensch, der das Lesen erlernt hat, nur einmal.

Die wahrscheinlich größte Erfindung der Menschheit manifestierte sich gerade vor uns. Diesen Augenblick erlebt jeder Mensch, der das Lesen erlernt hat, nur einmal. Er lässt sich nicht wiederholen und ist damit einzigartig. Auch aus dem Grund, weil ein großer Teil der Menschen ihn seit Jahrtausenden immer wieder erlebt, ja geradezu erfährt.

Wenn gedruckte Zeichen sich in Töne und Gedanken verwandeln, erreichen wir ein Maximum an Menschsein. Einst hatten wir noch ein Primatengehirn. Dann wurde aus millionenjähriger Evolution das Lesen erfunden, ein Paradigmenwechsel in der Menschheitsgeschichte.

Und heute? Das Lesen ist für die meisten von uns so alltäglich wie Essen und Schlafen. Die Fähigkeit, lesen zu können, ist eine notwendige Voraussetzung für fast alle Lebenssituationen.

Wir lesen Gedrucktes ebenso wie alles, was auf dem Bildschirm aufleuchtet, durchforsten Bibliotheken und WhatsApp-Archive, alles in selbstverständlicher Manier.

Es ist unser Mittel zum Zweck. Aber wenn ein Schulkind vor einem steht, das den Prozess des Leseerwerbs durchläuft, oder andersherum gesagt: Wenn es soeben die Brücke vom Ufer der einzelnen Buchstaben zum Ufer der Gedanken überquert hat, dann dekodiert es nicht nur den einzelnen Text, sondern die ganze Welt. Welch ein Geburtstagsgeschenk!

Hans-Jürgen Papier

»Es ist sehr viel Zeit verloren gegangen«

Der ehemalige Präsident des Bundesverfassungsgerichts zieht eine Bilanz seiner Arbeit an der Spitze der »Beratenden Kommission NS-Raubgut«, die jetzt abgewickelt und durch Schiedsgerichte ersetzt wird

von Michael Thaidigsmann  26.11.2025

Hommage

Pionier des Erinnerns

Der Filmemacher und Journalist Claude Lanzmann wäre diese Woche 100 Jahre alt geworden. Unser Autor ist ihm mehrmals persönlich begegnet

von Vincent von Wroblewsky  26.11.2025

Zahl der Woche

6500 Rabbiner

Funfacts & Wissenswertes

 26.11.2025

Glosse

Der Rest der Welt

Coole Nichten, coole Tanten

von Katrin Richter  26.11.2025

Kulturkolumne

Lob der Anwesenheit

Lahav Shani und Jason Stanley: Warum unser Autor nicht nur in der Westend-Synagoge vor Ort ist

von Eugen El  26.11.2025

Film

Shira Haas ist Teil der Netflix-Serie »The Boys from Brazil«

Die israelische Schauspielerin ist aus »Shtisel« und »Unorthodox« bekannt

 26.11.2025

Zwischenruf

Was bleibt von uns?

Was bleibt eigentlich von uns, wenn Apple mal wieder ein Update schickt, das alles löscht? Jede Höhlenmalerei erzählt mehr als eine nicht mehr lesbare Floppy Disk

von Sophie Albers Ben Chamo  25.11.2025

Kultur

André Heller fühlte sich jahrzehntelang fremd

Der Wiener André Heller ist bekannt für Projekte wie »Flic Flac«, »Begnadete Körper« und poetische Feuerwerke. Auch als Sänger feierte er Erfolge, trotzdem konnte er sich selbst lange nicht leiden

von Barbara Just  25.11.2025

Jüdische Kulturtage

Musikfestival folgt Spuren jüdischen Lebens

Nach dem Festival-Eröffnungskonzert »Stimmen aus Theresienstadt« am 14. Dezember im Seebad Heringsdorf folgen weitere Konzerte in Berlin, Essen und Chemnitz

 25.11.2025