Seine Markenzeichen sind die dunkle Wollmütze, Ohrringe, sein Bart und eine Brille mit dicken schwarzen Rändern. Seine gewagten Theater-Inszenierungen sorgen seit Jahren für Furore, für seine Filme hat er internationale Preise abgeräumt.
Seit er wegen angeblicher Veruntreuung staatlicher Fördermittel ins Visier der Staatsanwaltschaft rückte, ist sein Name nicht mehr bloß Kulturliebhabern ein Begriff: Der Regisseur Kirill Serebrennikow gehört zweifellos zu den schillerndsten Vertretern der modernen russischen Kulturszene. Am 7. September wird er 50 Jahre alt.
Als Chef des Moskauer Avantgarde-Theaters »Gogol Center« hat Serebrennikow die russische Kulturszene aufgemischt.
In Serebrennikows jüngstem Spielfilm »Leto« (»Sommer«) über die Anfangsjahre des legendären Leningrader Rockmusikers Viktor Zoi gibt es einen Dialog, in dem ein bereits bekannter Rockmusiker fordert, so schnell wie möglich ein Album mit dem jungen Zoi aufzunehmen, »ehe es zu spät ist«.
Auf die erstaunte Rückfrage, was denn dem Nachwuchskünstler widerfahren könne, sagt er: »Alles mögliche: Armee, Familie, Kinder, Alkoholismus, Desinteresse am eigenen Leben. Was sonst kann mit einem Menschen in unserem Land passieren?« Den Anspruch, alles zu tun, ehe es zu spät ist, scheint Serebrennikow auch an sich selbst anzulegen.
Der 1969 in der südrussischen Millionenstadt Rostow am Don geborene Theater- und Filmemacher ist kein Dissident im eigentlichen Sinne des Wortes, obwohl er aus seinen regierungskritischen Ansichten nie ein Geheimnis machte. Trotzdem pflegte er lange beste Kontakte zu Kulturbehörden und staatlichen Stellen.
»An den Theatereingang kannst du niemanden hinstellen, der die Leute fragt, ob sie dafür oder dagegen sind, dass die Krim uns gehört. Das Theater ist für alle«, erklärte er einmal in einem Beitrag für ein russisches Magazin. »Politik ist es nicht wert, dass ich mich ihretwegen mit meinen Freunden streite.«
Sein Verständnis von der Freiheit der Kunst verteidigt er jedoch entschlossen und mit Vehemenz. Daher eckt Serebrennikow, der eigentlich studierter Physiker ist, im konservativen Russland immer wieder mit seinen Stücken an. Die geplante Verfilmung der Lebensgeschichte von Pjotr Tschaikowski (1840-1893) scheitert daran, dass die staatliche Finanzierung zurückgezogen wird - angeblich, weil die Homosexualität des weltberühmten Komponisten im Mittelpunkt der Geschichte stellen sollte. Als Serebrennikow 2012 die künstlerische Leitung des Moskauer Gogol-Theaters übernimmt, laufen die Schauspieler Sturm und gehen gegen ihren neuen Chef auf die Straße.
Als Angeklagterin einem dubiosen Strafverfahren kämpft er darum, sein Werk fortsetzen zu können.
Das in »Gogol Center« umbenannte Haus verwandelt sich dennoch gegen alle Widerstände zur führenden Avantgarde-Bühne der Hauptstadt - auch, weil der Regisseur junge Absolventen aus seinem Experimentierkurs »Siebtes Studio« mit ins Theater bringt. Mit seinen modernen Interpretationen russischer Klassiker und den Inszenierungen aktueller Autoren macht er sich bald international einen Namen, wird zu renommierten Theaterfestivals eingeladen. So stellt er in Avignon eine Theaterversion des dänischen Spielfilms »Idioten« von Lars von Trier auf die Bühne.
Neben dem Theater ist Serebrennikow, der sich selbst als Buddhist bezeichnet, auch im Filmgeschäft zu Hause. Rebellische junge Leute sind dabei eines seiner zentralen Themen, meisterhaft in Szene gesetzt etwa in dem Streifen »Märtyrer«, in dem er Marius von Mayenburgs Geschichte über einen jungen christlichen Fanatiker ins moderne Russland versetzt.
Zuvor war ihm mit »Playing the Victim« bereits ein grelles Sittengemälde seines Heimatlandes gelungen. In der grotesken schwarzen Komödie spielt ein junger Mann im Auftrag der Polizei für die Rekonstruktion von Tatabläufen die Mordopfer - bis er selbst zum eiskalten Mörder wird.
Die Hintergründe des seit über zwei Jahren laufenden Strafverfahrens gegen Serebrennikow wegen Millionenbetrugs mit staatlichen Fördergeldern beim »Siebten Studio« sind bis heute unklar. Viele westliche Kommentatoren glauben daran, es handele sich um einen Generalangriff des Kremls auf die unabhängige Kunstszene.
Mindestens so wahrscheinlich ist aber, dass der jüdische Regisseur Opfer von Intrigen wurde, die ohne Rücksicht auf Verluste zwischen Teilen der Staatselite ausgefochten werden - und es eigentlich darum geht, seinen Förderern zu schaden.
Der Hausarrest gegen ihn wurde aufgehoben, und im August kam ein Gutachten zu dem Ergebnis, es habe keine Veruntreuung von Geldern gegeben.
Für Serebrennikow ändert sich im Sommer 2017 jedenfalls alles: Im August wird er während der Dreharbeiten zu »Leto« festgenommen und unter Hausarrest gestellt. In den kommenden Monaten übernimmt er, von Telefon und Internet abgeschnitten, dennoch die Regie diverser Theater- und Opernprojekte, auch in Deutschland.
Sein Anwalt befördert USB-Sticks mit Regieanweisungen aus der Wohnung, die Serebrennikow nicht verlassen darf, und bringt Videoaufnahmen von den Proben zurück. »Alle Plagen gehen vorüber«, sagt der Regisseur kurz zuvor bei einer Betriebsversammlung, »politische Ordnungen ändern sich, die Verantwortlichen kommen und gehen, aber die Kunst bleibt.«
Zuletzt sah es tatsächlich so aus, als könnte er damit recht behalten. Der Hausarrest gegen ihn wurde mittlerweile aufgehoben, und im August kam ein Gerichtsgutachten zu dem Ergebnis, es habe keine Veruntreuung von Geldern gegeben. »Die Anklage fällt in sich zusammen wie ein Bauklötzchenturm«, freut sich die Moskauer Wochenzeitung »Sobesednik«. Es gebe nun die echte Chance, dass die »Horror-Show« um Serebrennikow bald ein Ende finde.