Herr Mishani, bisher galten Sie vor allem als Autor von Kriminalgeschichten. Ihr aktueller Roman »Drei« dagegen scheint eher nicht in dieses Raster zu passen. Was ist geschehen?
In der Tat waren meine drei vorherigen Bücher, also »Vermisst«, »Die Möglichkeit eines Verbrechens« und »Die schwere Hand«, auf den ersten Blick als Kriminalgeschichten zu erkennen. Bei »Drei« sieht das Ganze ein wenig anders aus. Ein Verbrechen wird man auf den ersten 100 Seiten wohl vergeblich suchen. Und auch Inspektor Avi Avraham, mein Protagonist aus den anderen Büchern, taucht nirgends in der Handlung auf. Ebenso rückt Israel als Schauplatz der Handlung stärker in den Hintergrund.
Also handelt es sich bei »Drei« um einen klassischen Roman?
Ich würde es etwas anders formulieren. »Drei« ist ein Krimi, der sich beim Lesen nicht sofort als ein solcher offenbart. Man weiß einfach nicht, ob nun ein Verbrechen passiert oder nicht. Das Buch liest sich ebenfalls wie eine Detektivgeschichte, in der es unklar bleibt, ob der Detektiv auch irgendwann einmal in das Geschehen eingreifen wird oder eben nicht.
Kriminalgeschichten aus Israel hatten bereits vor über 20 Jahren in Deutschland Konjunktur – allen voran die Bücher von Batya Gur, die als Heiliges-Land-Thriller vermarktet wurden. Gab es Bestrebungen, auch Sie mit diesem Nimbus ins Rennen um die Lesergunst zu schicken?
Nein, meine Bücher sind nicht mit einem derartigen Label versehen worden. Es gab auch keinerlei Versuche. Natürlich wurde die Tatsache betont, dass der Ort der Handlung Israel ist. Das geschieht ja ebenso mit Kriminalgeschichten, die beispielsweise in Skandinavien, Griechenland oder Italien spielen und alle auf sehr unterschiedlichen Märkten äußerst erfolgreich sein können.
Woran liegt das?
Ich glaube, das hat viel damit zu tun, dass den Lesern die darin geschilderten Verbrechen bekannt vorkommen, aber das Setting wiederum nicht, weil es vielleicht fremd, aufregend oder einfach nur exotisch ist. Aus dieser Mischung heraus entwickelt sich eine gewisse Faszination gerade für Kriminalgeschichten, die in einem anderen Land stattfinden und nicht dort, wo man selbst lebt.
Wie erklären Sie sich dann den Erfolg von israelischen Krimis vor allem in Deutschland?
Fakt ist, dass sowohl Batya Gur als auch Shulamit Lapid so etwas wie die Pioniere auf dem Gebiet der Krimis waren – selbstverständlich auch in Israel, wo dieses literarische Genre eher eine Randerscheinung ist und kaum eine Tradition besitzt. Und es hat meiner Meinung nach auch viel damit zu tun, dass israelische Literatur in Deutschland sich generell großer Beliebtheit erfreut. Überhaupt findet man in Buchläden in Israel so viele aus anderen Sprachen übersetzte Romane oder Kriminalgeschichten wie in kaum einem anderen Land.
Warum sind Krimis in Israel eher eine Randerscheinung?
Das hat viel damit zu tun, dass die israelische Literatur eine vergleichsweise junge ist. Es gibt zwar eine lange Tradition der hebräischen oder jüdischen Literatur, die ebenfalls für das Entstehen des Staates Israel von großer Wichtigkeit ist – schließlich ist auch der Zionismus am Anfang ein literarisches Geschöpf gewesen. Aber in ihrem Ökosystem sind einige Zweige noch nicht wirklich voll entwickelt. Und dazu gehört zweifellos der Kriminalroman.
Bereits in Ihrem ersten Buch »Vermisst« lassen Sie Ihren Protagonisten, Inspektor Avi Avraham, erklären, dass es eigentlich gar keine israelischen Krimis gibt. Was steckt hinter dieser Aussage?
Vor den Büchern von Batya Gur stand man Kriminalgeschichten in Israel beinahe feindselig gegenüber. Zum einen dominierte eine gewisse Geringschätzung gegenüber dieser literarischen Gattung, zum anderen befasste man sich wohl lieber mit einer Bedrohung von außen als mit einer, die quasi zu Hause existiert. Auch gab es in Israel immer schon eine größere Bereitschaft, sich mit Figuren zu identifizieren, die externe Feinde bekämpfen, als beispielsweise mit einem einfachen Polizisten oder vielleicht Inspektor. Darüber hinaus scheint wenig Bewusstsein darüber zu herrschen, dass dieses Genre zahlreiche literarische Schätze beinhalten kann. Immer schon haben bedeutende Schriftsteller wie Friedrich Dürrenmatt, Jorge Luis Borges oder Bernhard Schlink Bücher geschrieben, die eben auch Krimis waren. Nur ist das hierzulande wenig bekannt.
»Fantasy, Horrorgeschichten oder Science-Fiction-Romane sind in der israelischen Literatur ebenso nur Randerscheinungen.«
Betrifft das nur Krimis?
Nein, Fantasy, Horrorgeschichten oder Science-Fiction-Romane sind in der israelischen Literatur ebenso nur Randerscheinungen. Generell gibt es kaum ein Verständnis dafür, dass eine literarische Gattung wie der Krimi sich hervorragend dafür eignen kann, gesellschaftliche und persönliche Konflikte zu verhandeln oder auf die Abgründe der menschlichen Psyche zu verweisen. Es braucht vielleicht noch ein wenig Zeit, damit literarische Figuren wie ein israelischer Sherlock Holmes überhaupt erst entstehen können und akzeptiert werden. Es fehlt noch an Geschichte. Auch die Geschlechterfrage spielt in diesem Kontext eine Rolle.
Inwiefern?
Krimis werden vor allem von Frauen gelesen. Männer dagegen bevorzugen Geschichten, die im Milieu der Nachrichtendienste angesiedelt sind. Und das führt zu einer weiteren, spezifisch israelischen Problematik. Als Helden gelten vor allem Agenten des Mossad oder Shabak. Sie sind in der Regel Aschkenasim. Gleiches gilt übrigens auch für andere, positiv konnotierte Figuren in der israelischen Literatur, die oftmals entweder Kibbuznikim oder Soldaten sind. Polizeiinspektoren haben vor diesem Hintergrund einen vergleichsweise schweren Stand.
Haben Sie deswegen Ihrem Protagonisten Avi Avraham einen misrachischen Hintergrund gegeben?
Ja, Polizisten sind in Israel in einer gewissen Weise stigmatisiert. Sie gelten als eher grobschlächtig, ungeschickt, ja, sogar als rassistisch. Und die Mehrheit von ihnen stammt aus den Reihen der Misrachim. Darüber hinaus tragen Angehörige der Polizei im israelischen Bewusstsein nicht so viel zur allgemeinen Sicherheit bei wie Soldaten oder Mitarbeiter der Nachrichtendienste. Außerdem gibt es ein Dilemma, das der italienische Regisseur und Schriftsteller Pier Paolo Pasolini anlässlich der Studentenunruhen 1968 einmal recht gut auf den Punkt gebracht hat. Er sagte nämlich, dass er Schwierigkeiten dabei habe, wem nun seine Sympathien gelten sollten – also entweder den Studenten, die für Redefreiheit und andere fortschrittliche Werte kämpften, jedoch zumeist aus privilegierten Verhältnissen stammten, oder aber den Polizisten, die eben aus der Arbeiterklasse kamen. Gerade deshalb vielleicht eignet sich ein Polizist hervorragend als literarisches Werkzeug, um der Frage genauer auf den Grund zu gehen, warum Menschen das tun, was sie tun. Das gilt auch für Israel.
Fiel deshalb auch die Wahl auf Holon als Schauplatz Ihrer Krimis?
Wahrscheinlich, schließlich ist Holon noch nie in der israelischen Literatur als Handlungsort besonders in Erscheinung getreten. Das wollte ich ändern. Denn in der Stadt bin ich aufgewachsen, und meine Mutter, die ich jeden Schabbat besuche, wohnt immer noch dort. Also verwebt sich in meinen Büchern manchmal auch Autobiografisches mit Fiktionalem, so auch in der Beziehung zwischen Avi Avraham und der Osteuropäerin Marianka. Meine Frau stammt ebenfalls von dort, und zwar aus Polen. In »Drei« ist das aber deutlich weniger der Fall.
Haben Sie Inspektor Avraham nun in Rente geschickt, oder macht er aktuell nur Pause?
Aktuell macht er wohl eher Pause. Als ich »Drei« geschrieben habe, war ich sehr nahe daran, ihn doch wieder in dem Buch auftreten zu lassen. Vor allem, als es mit dem Schreiben nach dem ersten Teil nicht so richtig vorangehen wollte, hatte ich manchmal das Gefühl, dass er an meine Tür klopft. Im Nachhinein bin ich aber ganz froh, dass ich ihn außen vor gelassen habe.
In Ihren Krimis rückt die klassische Frage, wer nun der Verbrecher ist, in den Hintergrund. Warum?
Die Frage, wer nun der Täter ist, oder die klassische Auseinandersetzung Gut gegen Böse interessieren mich weniger. Mich reizt es vielmehr zu zeigen, warum Personen in extreme emotionale Situationen geraten, und ich versuche dabei, der menschlichen Natur auf den Grund zu gehen. Meinen Studenten sage ich immer, dass man in die Haut eines Mörders schlüpfen muss, um seine Grausamkeit schildern und begreifen zu können. Man darf nie Anwalt sein oder Verständnis für seine Situation zeigen. Oft geht es mir um das Ambivalente wie in »Drei«. Als Leser ist man dann nicht sicher, ob das »Böse« auch wirklich als das »Böse« zu verstehen ist, und ich will es nicht einfach vorgeben. Es geht um die Entscheidungen, die die Akteure treffen, und die Angebote an die Leser, sich mit den Handelnden zu identifizieren oder eben nicht. Auf diese Weise hat schon Alfred Hitchcock, mein großes Vorbild, es meisterhaft verstanden, Spannung zu erzeugen. In dieser Tradition sehe ich mich ein wenig.
Mit dem israelischen Schriftsteller sprach Ralf Balke.