Das Bundesarbeitsgericht in Erfurt ist stolz auf seine Geschichte. In einer beeindruckenden Fotogalerie, »Ahnengalerie« genannt, hat es alle ehemaligen Richterinnen und Richter in vollem Ornat verewigt. Messingschilder auf den Bilderrahmen halten Daten ihrer dienstlichen Biografie fest. Die Politur etlicher dieser Schilder hat nun jedoch tiefe Kratzer erhalten.
Eine jüngst bekannt gewordene Untersuchung hat nämlich zahlreiche Hinweise gefunden, dass eine ganze Reihe distinguiert wirkender Herren in die Nazi-Diktatur verstrickt war.
Untersuchung Martin Borowsky, Richter am Landgericht Erfurt, hat diese noch unveröffentlichte Untersuchung auf eigene Initiative und Kosten durchgeführt und dabei die Akten deutscher und ausländischer Archive ausgewertet. Was er dabei zutage gefördert hat, wirft einen dunklen Schatten auf die Gründerjahre des Gerichts. Im Namen des Volkes haben damals Richter Recht gesprochen, die wenige Jahre zuvor der Ideologie der Volksgemeinschaft gehuldigt und in ihrer Berufspraxis tatkräftig darauf hingewirkt hatten, Juden aus dieser Gemeinschaft auszuschließen.
Beispielhaft seien hier einige genannt. Hans Gustav Joachim, seit 1937 Mitglied der NSDAP, wurde 1959 zum Richter an das Bundesarbeitsgericht berufen. In seiner 1938 veröffentlichten Doktorarbeit über »Die europäische Völkergemeinschaft« vertrat er die Auffassung, dass »Juden und Neger« aus rassenbiologischen Gründen nicht von der deutschen Volksgemeinschaft und damit auch nicht von der Völkergemeinschaft erfasst würden. Er forderte daher »die Ausscheidung der Juden aus allen Staaten Europas«.
»volksschädlinge« Karl Willy Martel, seit 1933 Mitglied der NSDAP, wurde 1956 an das Bundesarbeitsgericht berufen. Als Richter am Sondergericht Mannheim verhängte er seit 1942 neun Todesurteile gegen sogenannte Volksschädlinge, so in der Strafsache Ferdinand Hans, der Feldpostpäckchen zwecks Unterstützung seiner Mutter gestohlen hatte.
Georg Schröder, Senatspräsident bis 1973, zog in den Niederlanden jüdisches Vermögen ein.
Georg Schröder, Eintritt in die NSDAP 1933, war von 1956 bis 1973 Richter am Bundesarbeitsgericht, zuletzt als Senatspräsident. 1940 wurde er an das Reichskommissariat in den besetzten Niederlanden abgeordnet und übernahm dort die Leitung der Abteilung Feindvermögen. »Feinde« im Sprachgebrauch der Besatzer waren nicht etwa die Niederländer, sondern die Juden, die – so Hans Gustav Joachim – eben nicht dem niederländischen Staatsvolk zuzurechnen waren.
Schröders Aufgabe bestand darin, im Rahmen der sogenannten Endlösung der Judenfrage das jüdische Vermögen einzuziehen und die »Entjudung der Wirtschaft« zu betreiben, eine Tätigkeit, der er nicht nur eine wirtschaftliche, »sondern darüber hinaus besondere politische Bedeutung« beimaß. Und er leistete ganze Arbeit: Tausende jüdische Unternehmen wurden »arisiert« und die etwa 140.000 niederländischen und vor den Nazis in die Niederlande geflohenen Juden ihres Vermögens beraubt. Über 100.000 von ihnen verloren ihr Leben in den Gaskammern.
VERANTWORTUNG An das bedrückende Ergebnis dieser verdienstvollen Recherche knüpfen sich jedoch Fragen, die nur eine wissenschaftliche Folgeuntersuchung beantworten kann: Wer trägt die Verantwortung für die Berufung dieser Personen an einen Obersten Gerichtshof des Bundes? War den Verantwortlichen die NS-Biografie der Betroffenen bekannt gewesen? Wie haben sich diese Bundesrichter später zu ihrer NS-Verstrickung verhalten? Hatten diese personellen Kontinuitäten auch geistige Kontinuitäten in richterlichen Entscheidungen zur Folge?
Ein entsprechendes Forschungsvorhaben wäre von allgemeinem Interesse. Hier geht es um das Ethos der Juristen, die Integrität eines Obersten Gerichtshofs unse-rer Republik und um das Vertrauen in die Justiz und unseren Rechtsstaat schlechthin. Auch das Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz ist diesen Weg gegangen.
Erkenntnisse Die Akte Rosenburg, der Bericht des Historikers Manfred Görtemaker und des Rechtswissenschaftlers Christoph Safferling, hat bahnbrechende Erkenntnisse über die ungebrochenen Biografien der juristischen Elite hervorgebracht, die problem- und reibungslos nacheinander dem NS-Regime und dem demokratischen Rechtsstaat des Grundgesetzes gedient hat.
Der Bundesgerichtshof und die Bundesanwaltschaft sind dem Ministerium gefolgt und haben mittlerweile eigene Untersuchungen in Auftrag gegeben. Auch das Bundesverfassungsgericht hat nun erklärt, die eigene Geschichte auf eine NS-Belastung hin von einer unabhängigen wissenschaftlichen Kommission erforschen zu lassen.
Und das Bundesarbeitsgericht? Es hält sich bedeckt. Anzeichen dafür, aus der Untersuchung von Martin Borowsky Konsequenzen zu ziehen, sind noch nicht erkennbar. Der Appell des thüringischen Ministerpräsidenten Bodo Ramelow, sich der eigenen Vergangenheit zu stellen, ist bisher wirkungslos geblieben. Das Bundesarbeitsministerium, das Mutterhaus, verweist auf die Zuständigkeit des Gerichts. So zeigt sich die »Ahnengalerie« weiter in ästhetischer Geschlossenheit, und die Broschüre über das Bundesarbeitsgericht kennt nur eine makellose Geschichte.
strategie Die Präsidentin des Bundesarbeitsgerichts, Ingrid Schmidt, sieht hier »keine Eile«. Ihre Strategie geht offensichtlich dahin, eine Untersuchung auf die lange Bank zu schieben. Sie möchte erst das Bundessozialgericht mit einem Forschungsvorhaben vorangehen lassen. Danach werde man überlegen, ob sich dessen Konzept auf das Bundesarbeitsgericht übertragen lasse.
Die Präsidentin müsste eigentlich wissen, dass diese Strategie nicht aufgehen kann. Die jüdische Gemeinschaft, die Familie von Anne Frank und die Öffentlich-keit haben ein Recht, zu erfahren, wie der Mann, der in führender Funktion die Ent-rechtung und Beraubung der Juden in den Niederlanden betrieben hatte, nur wenige Jahre später zum Bundesrichter im demokratischen Rechtsstaat berufen werden und seine Karriere als Senatspräsident eines Obersten Bundesgerichts beschließen konnte.