Nach den Attentaten in Paris im November vergangenen Jahres zeigte sich rasch, dass auch diese Anschläge einen antisemitischen Hintergrund hatten: Gegen die Konzerthalle Bataclan waren in der Vergangenheit wiederholt Drohungen geäußert worden, weil die Besitzer des Hauses Juden sind. Dies konnte kaum überraschen: Der islamistische Terror gegen Juden ist in Europa längst Alltag geworden. 2006 ermordete eine Gruppe mehrheitlich jugendlicher Muslime den jungen Juden Ilan Halimi aus antisemitischen Motiven, 2012 überfiel Mohamed Merah eine jüdische Schule und ermordete vier Menschen, darunter drei Kinder, 2014 folgte der Angriff auf das jüdische Museum in Brüssel und 2015 weitere Anschläge in Frankreich und Dänemark.
Eines hatten alle diese Attentäter gemeinsam: Sie waren junge, radikale und antisemitische Muslime, die in Europa aufgewachsen sind und hier sozialisiert wurden. Deshalb wäre es falsch, die Anschläge isoliert als das Werk islamistischer Terrorgruppen zu betrachten. Vielmehr sind sie Ausdruck einer weit verbreiteten antisemitischen Geisteshaltung unter Europas Muslimen.
Befund Lange tabuisiert, rückt der muslimische Antisemitismus seit einiger Zeit vermehrt in das Blickfeld von Forschung und Öffentlichkeit. Ein Meilenstein in der wissenschaftlichen Untersuchung des Phänomens ist das neue Buch des Historikers Günther Jikeli, des führenden deutschen Experten zum Thema. Jikeli ist seit 2013 Permanent Fellow am Moses Mendelssohn Zentrum in Potsdam und Mitgründer des International Institute for Education and Research on Antisemitism (IIBSA) in London und Berlin. Sein Buch hat das Potenzial, zum Standardwerk zu werden.
In den ersten beiden Kapiteln liefert Jikeli einen Überblick über die Fragestellung und den aktuellen Forschungsstand. Der Befund scheint einhellig und düster: Der Antisemitismus ist ein verbreitetes und virulentes Phänomen unter europäischen Muslimen. So sind sie gegenüber Juden zwei- bis achtmal negativer eingestellt als Nichtmuslime.
Israel Für den zweiten, umfangreicheren Teil des Buches interviewten Jikeli und seine Mitarbeiter 117 junge Muslime in Paris, London und Berlin zu Juden, zum Holocaust und zu Israel. Die Aussagen der Befragten geben einen erhellenden Einblick in die antisemitische Gedankenwelt vieler junger Muslime in Europa, die verschiedene Wesensformen des Antisemitismus kombiniert. Die meisten der Interviewten begründeten ihren Antisemitismus mit ihrer religiösen oder seltener auch mit ihrer ethnischen, in der Regel arabischen, Identität. Aussagen wie »Muslime hassen Juden« oder »Araber hassen Juden« sind Ausdruck davon. Die eigene antisemitische Einstellung wird oft mit judenfeindlichen Passagen im den heiligen Schriften des Islams oder mit Ereignissen in der islamischen Geschichte begründet.
Vielleicht überraschend ist es, dass sich nur bei der Hälfte der interviewten Muslime offene Feindschaft gegen den Staat Israel manifestierte – doch bei Letzteren war die Wahrnehmung des Konflikts antisemitisch und religiös gefärbt. Oft benutzten sie die Begriffe »Israel« und »die Juden« gleichbedeutend und ließen sich mit der Aussage zitieren, Juden würden absichtlich Kinder töten – eine Aufwärmung der mittelalterlichen Ritualmordlegende. Die meisten Gegner Israels bestritten die Legitimität des jüdischen Staates in seiner Gesamtheit und betrachteten den Konflikt als Religionskrieg. All dies zeigt, dass eine klare Trennung zwischen Antisemitismus und Antizionismus kaum aufrechtzuerhalten ist.
Traditionen Nicht alle unter Muslimen verbreiteten Expressionen des Antisemitismus sind jedoch genuin islamisch, sondern gehen vielfach auf europäische Traditionen zurück. Juden werden als mächtig, reich und ausbeuterisch beschrieben. Die Interviews zeigen eindrücklich, welchen verheerenden Einfluss antisemitische Verschwörungstheorien aus Europa, die zu Anfang des vergangenen Jahrhunderts in die islamische Welt eingeführt und durch islamistische Vordenker wie Raschid Rida oder Sayyid Qutb gezielt kultiviert und islamisiert wurden, immer noch ausüben. So glauben viele der Befragten, dass Juden für die Anschläge des 11. September verantwortlich sind und damit das Ziel verfolgen, dem Islam zu schaden.
Ähnliches wurde auch nach den jüngsten Aschlägen in Paris geäußert. Der Vorwurf, Israel plane die Übernahme der heiligen Stätten des Islam, der auch von der Palästinensischen Autonomiebehörde verbreitet wird, gehört zur selben Gattung von Verschwörungstheorien. Diese Vorstellung eines westlichen Krieges gegen den Islam unter jüdischer Führung, die auch in der Propaganda von Al Qaida immer wieder auftaucht, ist hochgefährlich, da sie islamistischen Terror als Verteidigungshandlung erscheinen lässt. Wie Jikeli bemerkt, kann der Glaube an solche Theorien das Gefühl bei Muslimen verstärken, selbst Opfer von Diskriminierung zu sein.
Die Lektüre des Buches ist ein Gewinn für alle, die sich mit den Themen Antisemitismus, Islamismus und Immigration beschäftigen. Es ist zu wünschen, dass dessen Erkenntnisse von der Antisemitismusprävention aufgenommen werden, um das verbreitete, jedoch noch vielfach unverstandene Phänomen des muslimischen Antisemitismus wirksam zu bekämpfen.
Günther Jikeli: »European Muslim Antisemitism: Why Young Urban Males Say They Don’t Like Jews«. Indiana University Press, Bloomington 2015