Das mit den Wundern ist so eine Sache. Sie sind nicht wirklich verlässlich. Immer, wenn ich auf eines gehofft habe, ist es nicht gekommen. Doch kaum hatte ich es aufgegeben – peng, war es da. Das Wunder.
Meistens waren es sehr kleine Wunder, die da auftauchten. Ich konnte plötzlich in Marburg bei der Fahrprüfung am Berg anfahren … Oder es waren größere Wunder: Ein Freund, eine Freundin, schwer erkrankt an Krebs, ist plötzlich genesen, spaziert fröhlich neben mir durch den Park. Es gibt also kleine und große Wunder.
Die meisten mir bekannten Wunder liegen so weit in der Vergangenheit, dass es schwer ist oder gar unmöglich, sie zu überprüfen: Sara gebar Isaak, als sie über 90 war. Ach so? Hatten sie in der Wüste eine Samenbank?
Bei unseren christlichen Nachbarn ist es nicht viel anders: Maria gebar Jesus durch jungfräuliche Empfängnis. Manche Darstellungen zeigen, dass sie durchs Ohr stattgefunden habe. Interessante Praxis. Und Jesus lief übers Wasser. Ich würde vermuten – eine Dürreperiode. Und im Islam? Mohammed findet 72 Jungfrauen im Paradies … Muss er lange gesucht haben, der Arme.
An Chanukka hat das Öl für acht Tage gereicht statt nur für einen. Sehr schön. Vielleicht gab es doch noch irgendwo in der Höhle einen vollen Kanister geweihtes Öl … Aber ich will nicht ketzerisch sein. Menschen pilgern an Orte der Wunderheilung, der Erscheinungen, der Gnade. Alles bitter nötig, denn die Welt ist nicht in Ordnung. War sie wohl nie, aber ich lebe eben jetzt.
Sagen von Wundertätern und heiligen Rabbis werden von Generation zu Generation weitergegeben
Sagen von Wundertätern und heiligen Rabbis werden von Generation zu Generation weitergegeben. Diese Weisen bringen Licht ins Dunkel, laufen durch die Wüste oder übers Wasser, sind irgendwie größer, stärker, mutiger als wir, und manchmal können sie durch einen Witz den traurigsten Genossen zum Lachen bringen. Wahre Wundertäter!
In die Kotel, die Westmauer in Jerusalem, habe ich im Laufe meines Lebens bestimmt an die 50 Zettel gesteckt. Ich kann mich nicht mehr gut erinnern, was davon in Erfüllung gegangen ist und was nicht. Vielleicht 50 Prozent? Wunder waren keine dabei, das hätte ich nicht vergessen. Ich habe in Andechs mehr Bier getrunken als nötig und in Lourdes Anhänger gekauft und anderen Nippes. Erscheinungen hatte ich keine. Aber all diese Orte waren schön. Ich kann es kaum erwarten, wieder zur Westmauer zu kommen, dem Singsang der Frauen zu lauschen, heilige Orte sind eben heilige Orte, ein bisschen Heiligkeit färbt ab.
Letzten Endes ist es die schlichte Hoffnung, dass sich alles zum Guten wenden wird.
Braucht es Glauben, um Wunder sehen zu können? Vielleicht genügt der Blick, das Unerwartete sehen zu können. Es aus dem Fluss der Dinge herauszuheben und als das Besondere neben das Alltägliche zu stellen?
Wir wünschen uns so sehr: »Möge das Öl länger halten als nur einen Tag!« Plötzlich ist doch noch ein wenig mehr Öl da, und noch ein wenig … Der Nachbar hat Reserven, die er mit uns teilt.
Ist das ein Wunder oder nur das Unverhoffte, Unerwartete? In der Nacherzählung wird das gute menschliche Verhalten als wunderbar stilisiert. Und letzten Endes ist alles die schlichte Hoffnung, dass sich alles zum Guten wenden wird. Und dass vielleicht sogar die Hoffnung nicht mehr nötig sein wird, weil alles gut ist … alle genug Öl haben …
Wenn ich mir dieser Tage ein Wunder wünschen dürfte, wie sähe das wohl aus?
»Wenn ich mir was wünschen dürfte, käme ich in Verlegenheit.« So beginnt ein wunderschönes Lied von Friedrich Hollaender. Wenn ich mir dieser Tage ein Wunder wünschen dürfte, wie sähe das wohl aus? Dass Geiseln in Gaza noch leben, grenzt für mich an ein Wunder. Dass vergangene Woche etliche Dutzend freigelassen wurden, an ein weiteres.
Ich hatte schreckliche Fantasien diesbezüglich, aber wer nicht? Ich stelle mir vor, alle Geiseln kommen frei, sie sind zu Hause, zünden die Kerzen, und wenn alle acht brennen, sind alle Geiseln zurück bei ihren Lieben, und es gibt Latkes und Sufganiot, und die Gesänge klingen bis zum Himmel.
Jetzt werde ich übermütig in meiner Wunschliste der Wunder: Ich drehe den Film zurück. Die Massaker vom 7. Oktober haben nie stattgefunden, alle Kibbuzniks, alle Festivalbesucher leben, die Häuser in Gaza sind unversehrt, die Babys im Al-Schifa-Krankenhaus gesund, und die Hamas hat von allein die Waffen gestreckt, ihren Terror aufgegeben.
Der Film, das Leben lässt sich nicht zurückdrehen. Die Traumata sind da, die alten, die neuen, die schwer verheilenden. Aber ich weiß, dass wir es auch ohne Wunder schaffen werden. Wie wir schon viele, viel zu viele Pogrome und Verfolgungen überlebt haben.
Wir sind nicht allein, auch wenn es manchmal so aussieht. Es gibt echte Anteilnahme. Ich glaube fest an das Gute im Menschen, an Menschlichkeit und an Demokratie. Wir werden auch dieses Desaster bewältigen. Es ist ja leider nicht das erste Mal. Ein Wunder wäre, es wäre das letzte Mal. Ja, wenn ich mir in diesen Tagen ein Wunder wünsche, dann das: Nie wieder! Aber es ist eben so eine Sache mit den Wundern.
Die Autorin ist Schauspielerin, Regisseurin und Schriftstellerin.