Glosse der Woche

Abstammung geht gar nicht

Zu meinen beruflichen Aktivitäten im Wissenschaftsbetrieb gehört es, ab und zu Besprechungen von Büchern zu verfassen. Damit verdient man zwar nichts, aber man zwingt sich, ein Buch, dessen Lektüre fachlich ohnehin angesagt ist, besonders gründlich durchzulesen. Als ich jüngst ein entsprechendes Manuskript bei einem deutschen historischen Fachjournal einreichte, erschrak ich jedoch über eine unerwartet harsche Kritik des zuständigen Kollegen: »Geht gar nicht. Das war die Sprache des Dritten Reiches!«

Nun bildet der Nationalsozialismus schon lange einen Schwerpunkt meiner Arbeit, aber auch das schützt nicht unbedingt davor, sich gelegentlich in der Terminologie zu vergreifen. Da gibt es einige Worte, die man erst im Laufe der Zeit als unkritische Übernahme des NS-Vokabulars wahrgenommen hat, weshalb »Machtergreifung« heute nur in Anführungszeichen daherkommt oder durch »Machtübernahme« ersetzt wird. Auch die »Reichskristallnacht« ist dem treffenderen Begriff des Pogroms gewichen. Aber eine derartige Rüge jenseits des üblichen kollegialen Umgangstons konnte eigentlich nur einem schwerwiegenderen Tabubruch gelten.

Sarrazin Ich hatte geschrieben, dass in der NS-Zeit Menschen »allein wegen ihrer Abstammung« ermordet worden waren. Aber ich tat mich schwer, die Problematik hinter dieser Wortwahl zu entdecken. Erst langsam begriff ich, dass die Redaktion bereits den Gedanken einer »Abstammung« im Zusammenhang mit den nicht einmal explizit erwähnten Juden für unstatthaft hielt. Da existierte offenbar schon eine Assoziation des biologischen Begriffs der »Abstammung« mit Formen des Rassismus. Stand ich sogar im Verdacht, der Gedankenwelt Sarrazins und dessen Betrachtungen zu »jüdischen Genen« nahezustehen?

Mit dem nach meinem Empfinden gestelzt klingenden Korrekturvorschlag der Redaktion – »rassische Zuordnung durch die Nationalsozialisten« – wollte ich mich wiederum nicht anfreunden. Warum auch? Ich wähnte mich auf sicherem Terrain und versuchte es mit einem Rückgriff auf die Geschichte. Einstein hatte im Mai 1914 eine Einladung der russischen Akademie der Wissenschaften abgelehnt, weil er nicht in ein Land reisen wolle, in dem seine »Stammesgenossen so brutal verfolgt werden«. Auch Winingers »Jüdische National-Biographie« von 1925 erwähnt ganz natürlich die »Abstammung« als Aufnahmekriterium.

Terminus Die Redaktion wandte ein, dass die Begriffswelt der Zeit vor 1933 durch die folgenden zwölf Jahre Umdeutungen erfahren hat, die eine kritiklose Kontinuität nicht zulassen. Das ist zwar richtig, aber ich wies auch auf die umfangreiche zeitgenössische Literatur mit Standardwerken wie Raul Hilbergs »Vernichtung der europäischen Juden« hin, in der »Abstammung« weiterhin in diesem Sinn gebraucht wird. Damit konzedierte mir die Redaktion zwar, in guter Gesellschaft zu sein, fand aber den biologischen Terminus »Abstammung« weiterhin nicht sachgerecht. Es half nichts, auf die Selbstdefinition des Judentums hinzuweisen, die sich neben Übertritten vor allem auf die Abstammung von einer jüdischen Mutter bezieht. Da lässt sich die von der Redaktion als nicht für angemessen befundene Biologie einfach nicht vermeiden.

Offenbar verhindern Unsicherheit und eine daraus resultierende übergroße Vorsicht manchmal selbst unter Wissenschaftlern einen »normalen« Umgang mit solchen Fragen. Immerhin hat die Redaktion meine Formulierung doch noch zugelassen, weil schließlich der Autor die Verantwortung dafür trage. Dessen Abstammung spielte dabei aber keine Rolle.

Der Autor ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Forschungsinstitut des Deutschen Museums München und Lehrbeauftragter für Physikgeschichte an der Ludwig-Maximilians-Universität München.

Programm

Termine und TV-Tipps

Termine und Tipps für den Zeitraum vom 20. Februar bis zum 27. Februar

 21.02.2025

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Der Berliner CDU-Fraktionschef Dirk Stettner hat seine Karte für die Abschlussgala zerrissen – und will die Förderung für das Filmfestival streichen

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Der Zentralrat der Juden verlangt von den Verantwortlichen im Freistaat, die in der »Süddeutschen Zeitung« erhobenen Vorwürfe schnell zu klären

 20.02.2025

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Unentschlossen vor der Wahl? Sie sind in guter Gesellschaft – mit Maimonides

Der jüdische Weise befasste sich mit der Frage: Sollten wir als Kopfmenschen mit all unserem Wissen auch bei Lebensentscheidendem dem Instinkt vertrauen?

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Eine krasse Show hinlegen

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von Michael Thaidigsmann  20.02.2025

Literatur

»Die Mazze-Packung kreiste wie ein Joint«

Jakob Heins neuer Roman handelt von einer berauschenden Idee in der DDR. Ein Gespräch über Cannabis, schreibende Ärzte und jüdischen Schinken

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Sternstunde des Kinos: Eine Doku widmet sich David Cunio, der am 7. Oktober 2023 nach Gaza entführt wurde, und seinem Zwillingsbruder Eitan, der in Israel auf ihn wartet

von Ayala Goldmann, Katrin Richter  19.02.2025

Berlin

»Sind enttäuscht« - Berlinale äußert sich zu Antisemitismus-Skandal

»Beiträge, die das Existenzrecht Israels infrage stellen, überschreiten in Deutschland und auf der Berlinale eine rote Linie«, heißt es in einer Erklärung des Festivals

von Imanuel Marcus  19.02.2025