Es gibt Sätze, die hört man nur in Berlin: »Ick will meene Klinke putzen, früh, bevor ich uff Arbeit jeh, und mein Kleiner, die kleene Kröte is erst zweenhalb Jahre alt, knallt ma de Türe zu. Jetzt muss ich so in Unterrock bei Schwiejamutta jehn ...«
Diese Zeilen, die die Schauspielerin Nicolette Krebitz in einwandfreiem Berlinerisch am Donnerstagabend im Berliner Ensemble vorgelesen hat, klingen nach großer Klappe, nach Hinterhöfen und »Zille sein Milljöh«. Doch es sind die Sätze, mit denen sich die 19-jährige Marie Jalowicz Simon am 22. Juni 1942 vor einer Verhaftung rettete. Die junge Frau rannte um ihr Leben.
Dieses Leben hat die spätere Professorin für antike Literatur auf 77 Kassetten gesprochen, angefangen von ihrer Geburt bis zum Sommer 1945. Entstanden ist das Buch Untergetaucht, das Jalowicz Simons Sohn, der Historiker Hermann Simon, gemeinsam mit der Autorin Irene Stratenwerth nun veröffentlicht hat.
Klassiker Vorgestellt wurde es im Pavillon, der bis auf den letzten Platz besetzt war. Der Radiomoderator Knut Elstermann sagte gleich zu Beginn, dieses Buch »wird schnell ein Klassiker werden«. Ein Klassiker vielleicht auch deswegen, weil der Band aus vielen anderen Biografien wegen seiner klaren und genauen Schilderungen heraustrete – und auch wegen seines Charmes, denn Marie Jalowicz Simon doziert ihre Geschichte nicht, sie erzählt sie – ganz persönlich.
Bis es allerdings dazu kam, sei es ein langer Weg gewesen, betonte Hermann Simon. Zwar habe die Mutter immer wieder davon gesprochen, irgendwann einmal alles aufzuschreiben, aber dabei sei es geblieben. Und der Sohn, der als Historiker schon viele Lebensgeschichten gehört hatte, wunderte sich: »Mir sollte es nicht gelingen, die eigene Mutter zu befragen?«, beschreibt Simon. Erst als er ihr ein Aufnahmegerät gab und sie damit auch ein wenig überraschte, fing seine Mutter an. »Es war mit letzter Kraft die letzte Durchsage – sie wollte es loswerden«, beschreibt Simon die Aufnahmen. Und betont: »Es wäre mehr erzählt worden, hätten wir uns für unsere Eltern mehr Zeit genommen.«
Gedächtnis Das, was Knut Elstermann als das »absolute Gedächtnis« bezeichnet, sei die unbestechliche Genauigkeit Marie Jalowicz Simons, der ihr Sohn mit ebenso hoher Akribie nachgegangen sein. Und das gestaltete sich, erzählt der Historiker, nicht immer einfach, denn »es habe manchmal bis zu zehn oder zwölf Jahre gedauert, bis ich in eine Akte einsehen konnte«. Akten der »Täter« seien schwer einsehbar.
Trotzdem gelang es ihm, viele Menschen ausfindig zu machen, auch viele derjenigen, die der jungen Marie geholfen haben, während sie sich an über 17 Orten in der Stadt verstecken musste. Ein umfangreiches Namensregister am Ende des Buches gibt Einblick in deren Biografien.
Und wer Marie Jalowicz Simon, die 1998 in Berlin verstarb, hören möchte, dem sei, sagte Nicolette Krebitz, das Hörbuch, das die Schauspielerin eingesprochen hat, empfohlen. Denn dort könne man Simon in einem kurzen Ausschnitt im Original hören, und das, so Krebitz »müssen Sie erleben«.
Lesen Sie auch das Interview mit Hermann Simon: www.juedische-allgemeine.de/article/view/id/18561
Marie Jalowicz Simon: »Untergetaucht. Eine junge Frau überlebt in Berlin 1940–1945«. S. Fischer, Frankfurt am Main 2014, 416 S., 19,99 €
Marie Jalowicz Simon: »Untergetaucht. Eine junge Frau überlebt in Berlin 1940–1945«. Gesprochen von Nicolette Krebitz. 7 CDs, 29,95 €