Etwa 40.000 Briefe sind aus dem Nachlass von Martin Buber erhalten. Der größere Teil der Briefe ging an den Religionsphilosophen, etwa ein Fünftel hat er selbst verfasst.
Es handelt sich um höchst unterschiedliche Post: um philosophisch schwerwiegende Auseinandersetzungen über das Judentum, das Christentum und andere Wahrheiten; um Briefwechsel mit Marxisten, Anarchisten oder sogar mit völkischen Geistern. Weitere Briefwechsel drehen sich um Verlagsverträge oder langweilige Verwaltungssachen. Zu finden ist auch triviale Fanpost – oder Briefe von Bubers Lesern aus Deutschland, die die Schoa wortreich bedauern.
Dieser hochinteressante Schatz soll nun auch von Theologen und Historikern der Goethe-Universität Frankfurt am Main gehoben werden. Er liegt in Papierform in den Archiven der Israelischen Nationalbibliothek in Jerusalem. Die Digitalisierung sämtlicher Briefe ist das größte Projekt des im Frühjahr gegründeten und Ende Oktober eröffneten Buber-Rosenzweig-Instituts unter der Leitung des Judaisten und Religionshistorikers Christian Wiese. Das Projekt hat soeben begonnen und soll bis 2044 andauern. Also 23 Jahre – für ein Wissenschaftsprojekt ein geradezu biblisch langer Zeitraum.
SCHWERPUNKT Wiese selbst, kürzlich 60 Jahre alt geworden, begeistert sich ähnlich lange für Martin Buber. Obwohl ursprünglich ein evangelischer Theologe, examinierter Pfarrer und studierter Judaist, präferiert er als Wissenschaftler eher den geschichtswissenschaftlichen und weniger den theologischen Zugang zum Judentum der Moderne. Hier liegt sein jahrzehntelanger Forschungsschwerpunkt.
Die Gründung des Buber-Rosenzweig-Instituts hat eine lange Vorgeschichte.
Wiese suchte zum Beispiel das Jüdische in den Schriften von Hans Jonas, erforschte das Geschichtsbewusstsein in jüdischen Identitäten, das Selbstverständnis des Zionismus wie auch Momente des christlich-jüdischen Dialogs. Bis 2010 leitete er das Centre for German-Jewish Studies der britischen Universität Sussex. Seit 2010 lehrt er an der Frankfurter Universität – als Inhaber der Martin-Buber-Professur für Jüdische Religionsphilosophie.
Die Gründung des Buber-Rosenzweig-Instituts geht maßgeblich auf Wiese zurück. Aber sie hat eine lange Vorgeschichte. 1989 stiftete die Evangelische Kirche in Hessen und Nassau die erste Martin-Buber-Professur. Frankfurter Theologiestudenten sollten Kenntnisse von der jüdischen Religionsphilosophie und dem Judentum erwerben.
KOOPERATION In Sachen der Buber-Briefwechsel kooperiert das Institut mit der Friedrich-Schiller-Universität Jena, der Boston University und der Israelischen Nationalbibliothek. Die Briefe sollen digitalisiert und zugänglich gemacht werden, etwa ein Viertel von ihnen wird im vollen Umfang wissenschaftlich kommentiert. Auch zahlreiche gedruckte Buchbände sind zu erwarten.
»Die digitale Edition widmet sich zunächst Bubers Briefwechseln mit zionistischen Intellektuellen und Politikern, später auch mit Literatinnen und Künstlerinnen oder zu Themen des interreligiösen Dialogs und der Religionsphilosophie«, sagt Christian Wiese. Er und seine Mitarbeiter haben viele der unzähligen Briefe gesichtet. Allein in Frankfurt sind fünf wissenschaftliche Mitarbeiterinnen damit beschäftigt. »Es handelt sich nicht nur um für Historiker interessante Relikte einer vergangenen Welt, sondern um bis in die Gegenwart relevante Texte«, so Wiese.
Das wären zum Beispiel die Briefwechsel über die Ethik des jüdischen Nationalismus. Buber ist hierüber in Korrespondenz etwa mit Max Brod oder Theodor Herzl, oder andererseits – und kontroverser – auch mit dem deutschen und jüdischen Antizionisten Hermann Cohen. Martin Buber äußerte schon in den 30er-Jahren die Sorge, dass der jüdische Nationalismus durch den europäischen »Chauvinismus« verdorben werden könnte.
Institutsleiter Christian Wiese begeistert sich seit Langem für Martin Buber.
Seinen ersten Brief nach Deutschland nach der Schoa schrieb Buber an Hermann Hesse. Beide kannten einander seit Begegnungen in den utopischen Aussteigerkommunen auf dem Monte Verità zu Beginn des 20. Jahrhunderts.
PROJEKTE Am neuen Frankfurter Institut stehen Fragen zum jüdischen Leben in der Moderne im Fokus. Das heißt, es geht in den Forschungsprojekten längst nicht nur um Buber (und den zweiten Namensgeber, den deutsch-jüdischen Philosophen Franz Rosenzweig).
So sind hier auch Dissertationsprojekte angesiedelt, die sich der jüdischen Gegenwarts- und Alltagskultur widmen, Fragen von Tod und Trauer im jüdischen Leben nach der Schoa, der Vielfalt jüdischer Identitäten, ethischen Themen wie jenem der Ökologie oder dem interreligiösen Dialog, zunehmend auch dem jüdisch-muslimischen. Dazu soll 2022 eine neue Professur besetzt werden.
Eine hessische Erinnerungsforschung ist derzeit ein weiteres Großprojekt: Es geht um die Geschichte der 473 Synagogen, die es noch 1933 in Hessen gab. Neben einem Synagogengedenkbuch sollen im Rahmen eines pädagogischen Projekts zahlreiche dieser zerstörten Synagogen von Architekturhistorikern der TU Darmstadt digital rekonstruiert werden. Das Projekt, das 2022 beginnt, wird von den Evangelischen Kirchen und Katholischen Bistümern in Hessen, vom Hessischen Ministerium für Wissenschaft und Kunst und vom Hessischen Kultusministerium gefördert.
NAMENSGEBER Die Lebenswege beider Namensgeber des Instituts – Martin Buber und Franz Rosenzweig – sind eng mit der Stadt Frankfurt am Main verbunden, wie auch mit der Gründung der Universität im Jahr 1914. Buber war dort von 1924 bis 1933 Lehrbeauftragter und Honorarprofessor für jüdische Religionslehre. Er war 1930 überhaupt der erste jüdische Professor im Fach Religionswissenschaft in Deutschland. Die 1920er-Jahre standen noch einmal, wie in der langen zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, im Zeichen intensiven Austauschs und auch der Emanzipation jüdischer Bürgerinnen und Bürger.
Das Interesse am religiösen Dialog war vielseitig. Buber war etwa Mitherausgeber der von dem katholischen Verleger Lambert Schneider herausgegebenen Zeitschrift »Die Kreatur« – gemeinsam mit dem Katholiken Joseph Wittig sowie dem Protestanten Viktor von Weizsäcker.
In Israel blieb Martin Buber eher akademischer Außenseiter.
1933 gab Buber die Professur unter dem Druck des Nationalsozialismus auf und half einige Jahre im Kontext der »Mittelstelle für jüdische Erwachsenenbildung« Juden in Deutschland, geistigen Widerstand gegen den Nationalsozialismus zu leisten und sich auf die Emigration nach Palästina vorzubereiten. Franz Rosenzweig starb 1929 nach schwerer Krankheit in Frankfurt. Er leitete das Freie Jüdische Lehrhaus Frankfurt, wo auch Buber Vorträge hielt.
Das gemeinsame Hauptprojekt beider, das Martin Buber nach Rosenzweigs Tod weiterführte, war jedoch eine einzigartig originelle Neuübersetzung der hebräischen Bibel ins Deutsche – »Die Verdeutschung der Schrift«. Die ersten Sätze lauten: »Im Anfang schuf Gott den Himmel und die Erde. Die Erde aber war Irrsal und Wirrsal. Finsternis über Urwirbels Antlitz. Braus Gottes schwingend über dem Antlitz der Wasser. Gott sprach: Licht werde! Licht ward.«
AUSSENSEITER 1938 emigrierte Buber nach Jerusalem. In Israel blieb er eher akademischer Außenseiter. Nationalisten und Orthodoxe fanden wenig Sympathie für seine Passion für den Dialog mit Christen und seine politischen Anschauungen zur Koexistenz mit der arabischen Bevölkerung. »Sozialisten, die das Ideal der Kibbuzim hegten, schätzten seine Schriften über den religiösen Sinn der Gemeinschaft aber sehr«, sagt Christian Wiese.
Und auch gegenwärtig gebe es in Israels junger Generation wieder ein Interesse an den Texten Bubers. »Es sind die Milieus, die sich um die Atomisierung der Gesellschaft sorgen. Hier scheint Bubers kommunitaristische Philosophie wieder attraktiv«, hat Wiese beobachtet.