Das erste Presse-Interview seines Lebens gab Aharon Appelfeld 1948 in Jerusalem. In deutscher Sprache, denn weder er noch der Journalist Arthur Koestler, der ihn befragte, beherrschten Hebräisch. Appelfeld war damals 16 Jahre alt, seit rund zwei Jahren im Land und wohnte in einer Einrichtung der Jugend-Alija.
»Koestler kam damals zu uns, weil er etwas über die Kinder erfahren wollte, die die Schoa überlebt hatten«, erinnert sich Appelfeld. Die jungen Leute sollten das Vergangene möglichst schnell vergessen und »neue Juden« werden. Was ein »neuer Jude« sein sollte, war zwar weder Koestler noch Appelfeld ganz klar, aber es hatte offenbar viel mit Landwirtschaft, Militärdienst und körperlicher Ertüchtigung zu tun.
umerziehung In einem seiner wichtigsten Bücher, dem Roman Der Mann, der nicht aufhörte zu schlafen (2012), kehrte Appelfeld zu seinen Jahren in der Jugend-Alija zurück. In jene Zeit also, als die mitunter rührend naiven israelischen Erzieher alles daran setzten, aus dem Czernowitzer Jungen Erwin Appelfeld einen israelischen »Tarzan« (Koestler) zu machen.
Doch während es den Israelis 1948 zwar gelang, fünf arabische Armeen zu besiegen, scheiterten sie kläglich an der Umerziehung Erwins. Wie sein Alter Ego im Roman erkannte auch Appelfeld schließlich, dass jeder Versuch, aus ihm einen »neuen Juden« ohne Diaspora-Vergangenheit zu machen, in Identitätsverlust enden musste.
So wie Erwin im Roman sich in seine Heimatstadt und sein Elternhaus zurückträumt, beschwört auch Appelfeld in jedem seiner Bücher die Welt seiner Kindheit und Jugend in der Galut. Wenn er schreibt, dann kehrt er nicht in die Vergangenheit zurück, sondern dann ist er zu Hause. »Ich setze mich hin und schreibe und bin in meinem Haus. Und inzwischen habe ich schon mehr als ein einziges Haus, bereits ein ganzes Viertel, denn ich habe schon rund 40 Bücher geschrieben. In dieses Viertel hole ich meine Onkel und Tanten, Cousins und Cousinen, all die Freunde meines Vaters und meiner Mutter, all die Kommunisten, all die Liberalen, Anarchisten, Zionisten und Religiösen. Ich versuche, über 100 Jahre jüdischer Einsamkeit zu schreiben.«
kindheit Man hat Aharon Appelfeld immer wieder einen »Schoa-Dichter« genannt. Nichts macht ihn ärgerlicher, auch wenn der Massenmord an den europäischen Juden in seinen Büchern eine zentrale Rolle spielt. Der Holocaust gehört nun einmal zu seiner Biografie, hat seine Kindheit geprägt, aus der er, wie andere Schriftsteller, schöpft. Aharon Appelfeld, geboren am 16. Februar 1932 in Sadhora nahe Czernowitz, wuchs in einer assimilierten und sehr liebevollen Familie auf.
»Als ich achteinhalb Jahre alt war, verlor ich mein Zuhause. Ich war im Lager, ich hatte keine Mutter mehr. Man hatte sie ermordet. Ich war zunächst bei meinem Vater, dann nahmen sie ihn fort von mir. Ich blieb alleine. Danach floh ich aus dem Lager und lebte im Wald. Dann verschlug es mich in die Unterwelt, zu Kriminellen. Bis zum Alter von 13, 14 Jahren hatte ich also ein hartes Leben. Nicht das Leben eines Kindes, sondern eines Erwachsenen. Und gleichzeitig war auf der einen Seite der Horror, auf der anderen Seite doch ein Kind. Einerseits ist nichts schlimmer, andererseits betrachtet ein Kind die Welt als eine Art Märchen.«
Und so glaubte der Junge fest daran, dass seine Eltern ihn eines Tages retten würden. Es war nicht zuletzt diese kindliche Vorstellungskraft, die dem Jungen half, die Jahre der Verfolgung zu überleben. Dieser besondere, fast magische Blick eines Kindes auf die Welt prägt alle Bücher Appelfelds, der von Kritikern immer wieder mit Kafka verglichen wird.
wiedersehen In Israel, wo sein erstes Buch bereits 1957 erschien, hatte es der Schriftsteller dennoch lange schwer, akzeptiert zu werden. Weder wurde seine klare, lakonische Sprache geschätzt, noch gestand man ihm zu, Romane statt Tatsachenberichte über die Jahre der Schoa zu schreiben. »Das hat sich erst vor rund 25 Jahren geändert. Warum? Die meisten Überlebenden sind inzwischen gestorben. Und deren Kinder wissen nichts über ihre Eltern. Und so kommen sie zu mir, lesen meine Bücher. Für die bin ich sozusagen der Vater. Und die Mutter. Sie wollen verstehen. Auch sich selbst wollen sie verstehen.«
Eine Geschichte, die Aharon Appelfeld bislang nicht gewagt hat aufzuschreiben, handelt vom Wiedersehen mit seinem Vater, den er Ende der 50er-Jahre unverhofft in Israel wiedertraf. Appelfelds Zögern, diese Begegnung in einem Buch zu beschreiben, passt zu dem großen Schriftsteller: »Die Kunst besteht nicht darin zu reden, sondern einen Raum zu erschaffen, in dem große Stille herrscht.«