Heute schon auf der Smartwatch die eigenen Körperwerte gecheckt? Das teils übersteigerte Bedürfnis der Gegenwart nach Gesundheitskontrolle hat einen prominenten literarischen Vorläufer: Thomas Manns »Zauberberg«, erschienen am 28. November 1924. Elf Jahre arbeitete der Literaturnobelpreisträger an dem gut 1.000 Seiten dicken Roman, der heute erstaunlich wenig an Aktualität eingebüßt hat. Denn er behandelt zentrale menschliche Fragen nach Liebe, Krankheit und Tod, nach dem Sinn von Arbeit und dem eigenen Platz in der Gesellschaft. Aber auch die politische Debatte um Krieg und Frieden im Buch ist fast schon erschreckend anschlussfähig.
Das Werk spielt am Vorabend des Ersten Weltkriegs, hoch oben im Lungensanatorium von Davos, Treffpunkt der gehobenen kränkelnden europäischen Gesellschaft. Hauptfigur ist der 23-jährige Hamburger Kaufmannssohn Hans Castorp, der dem Leser gleich zu Beginn als Mann von gepflegten Manieren und ebensolcher Einfalt vorgestellt wird. Im Prinzip gesund, besucht er mehr zum Zeitvertreib seinen kranken Vetter im Sanatorium. Geplant sind drei Wochen - am Ende werden es sieben Jahre.
Denn schnell gerät er in den morbiden Sog des entrückten Ortes, dessen streng strukturierter Tagesablauf des Nichtstuns vom viermaligen Fiebermessen und Notieren der Werte maßgeblich mitbestimmt wird. Als Castorp sich nach zwei Wochen das erste Mal »misst«, weiß der Leser: Er ist verloren.
Work-Life-Balance
Das Sanatoriumsleben kommt Castorps unentschlossenem Charakter entgegen und gibt ihm Gelegenheit, dem Start in die Arbeitswelt noch etwas zu entfliehen. »Es gab im Grund nichts Achtenswertes außer ihr, sie war das Prinzip, vor dem man bestand oder nicht bestand«, sinniert er über »Arbeit« an sich, doch gleich ergänzt der Erzähler: »Aber eine andere Frage war, ob er sie liebte; denn das konnte er nicht, so sehr er sie achtete, und zwar aus dem einfachen Grunde, weil sie ihm nicht bekam.« Zweifelsohne ist Castorp an einer guten Work-Life-Balance gelegen.
Das Buddenbrook-Museum in Lübeck zeigt aktuell zum »Zauberberg« noch bis Ende Februar die Doppelausstellung »Fiebertraum und Höhenrausch«. Direktorin Caren Heuer erläutert auf Anfrage die modernen Anknüpfungspunkte des Stoffs: »Zum einen sind es die thematisierten anthropologischen Konstanten: Wer bin ich? Was ist das Leben, was das Sterben? Und was ist eigentlich der Plan für mich dazwischen?« Aber auch die Darstellung von Begehren und Erotik sei sehr modern: »Während der Faschingsnacht im Sanatorium verkleiden sich Männer als Frauen und umgekehrt. Der Champagner fließt in Strömen. Das genderfluide Spiel dort hat ungemein viel zu tun mit dem Eskapismus, der Realitätsflucht unserer Zeit.«
Vom Streit zur Gewalt
Ein weiteres Kernstück sind die sich bis in ein tödliches Duell hineinsteigernden politischen Debatten zwischen dem Humanisten Settembrini und dem zum Katholizismus konvertierten Juden Naphta mit faschistoiden wie kommunistischen Zügen. »Die Art, wie da diskutiert wird, ist schwarz-weiß und lässt keinen Raum für Zwischentöne. Die beiden hauen einfach Meinungen raus, und das Ganze erinnert eher an einen Twitter-Schlagabtausch oder eine Talkshow«, erklärt Heuer.
Zugleich sei das Duell eine Metapher für den »großen Donnerschlag«, der zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs führte. »Der Roman macht die These auf: Diese Art des Streitens wird zu Gewalt führen. Und nicht nur zwischen zwei Personen, sondern es wird zur Völkerschlacht, weil insgesamt eine große Gereiztheit in der Gesellschaft liegt.«
Zeit und ihr flüchtiges Zerrinnen ist ein zentrales Motiv im »Zauberberg«. Zeit ist freilich auch ein wichtiger Faktor für die Lektüre des dicken Wälzers. Wer da erstmal zögert, dem sei Manns Novelle »Tristan« ans Herz gelegt, erhältlich als schmales Reclam-Heftchen. Es ist quasi eine Art Vorstudie zum »Zauberberg«, und man kann gut antesten, ob einem Manns Sprachstil und die »Zauberberg«-Thematik samt Sanatoriums-Gewese zusagen. Wem diese Vorspeise schmeckt, der kann sich getrost in die Liegekur zur »Zauberberg«-Lektüre begeben.