Das Spektrum reicht von Skepsis bis zu großer Sorge: Juden gehen mit gemischten Gefühlen in die Europawahl Ende Mai. Und nicht erst, seit eine Umfrage der EU-Grundrechteagentur ergeben hat, dass im EU-Schnitt 28 Prozent der Befragten 2017 eine antisemitische Erfahrung gemacht haben. In den vergangenen fünf Jahren waren es demnach 39 Prozent.
Auch das ein oder andere Gesetz in einem EU-Mitgliedsstaat sorgt für Unmut – wie das Verbot ritueller Schlachtungen in Belgien. Vertreter des Judentums sehen darin eine Beschränkung der Religionsfreiheit. »Juden machen sich Gedanken über ihre Zukunft in Europa. Es geht auch um Religionsfreiheit«, sagte kürzlich Avichai Apel, Vorstandsmitglied der Orthodoxen Rabbinerkonferenz Deutschland. »Das ist eine Politik in Belgien, die unser jüdisches Leben infrage stellt.«
»Europa ohne Juden würde nicht mehr Europa sein«, betont die EU-Antisemitismusbeauftragte.
BELGIEN Der Präsident der Konferenz Europäischer Rabbiner (CER), Moskaus Oberrabbiner Pinchas Goldschmidt, sagte bei der Generalversammlung der CER Mitte Mai in Antwerpen, dass die Frage nach Religionsfreiheit ein wichtiger Aspekt sei, wenn Politiker beteuerten, dass ein Europa ohne Juden kein Europa mehr wäre. Juden fragten ihre Rabbiner, ob sie weiter in der EU leben könnten. »Sie erwarten von uns eine Antwort. Wir müssen die Fragen den Politikern stellen.«
Goldschmidt fasst die Situation so zusammen: »Ganz Europa geht durch schwere Turbulenzen, und die Lage der jüdischen Gemeinschaft ist von der allgemeinen Lage in Europa abhängig.« Die wichtigsten Anliegen von Juden in der EU seien Sicherheit, Toleranz und Religionsfreiheit.
Angesichts von Antisemitismus prangert Goldschmidt auch europäische Parteien an. Konkret nennt er Jobbik in Ungarn. In der Kritik steht auch immer wieder die Fidesz-Partei von Ungarns Ministerpräsident Viktor Orban. Die Europäische Volkspartei (EVP) beschloss Ende März, die Mitgliedschaft von Fidesz in der EVP ohne Enddatum auszusetzen. Kritiker werfen Orban vor, Demokratie und Rechtsstaat auszuhöhlen.
In Ungarn werden antisemitische Vorurteile geschürt, kritisiert der Zentralrat der Juden in Deutschland.
UNGARN Auch der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Josef Schuster, blickt auf das Land. So seien in vielen EU-Staaten antisemitische Ressentiments wieder stärker zu spüren. »Jüngstes Beispiel war die Wahlkampagne von Viktor Orban in Ungarn. Damit wurden Vorurteile gegen Juden geschürt und bedient.« Aus Sicht des Oberrabbiners von Belgien, Albert Guigui, bedrohen Antisemitismus und Islamophobie die Werte Europas.
In einer Umfrage sagten 85 Prozent der Juden in der EU, dass Antisemitismus das wichtigste Problem für sie sei. Doch wenn es um das Thema geht, steht nicht nur Ungarn im Zentrum der Aufmerksamkeit. Goldschmidt etwa lenkt den Blick in Richtung Westen: »Frankreich ist das heißeste Pflaster in Europa.« Gemeinden seien in den vergangenen 15 Jahren kleiner geworden, die Emigration habe zugenommen.
»Ohne Sicherheit keine Freiheit. Nur der Staat kann Antisemitismus bekämpfen«, sagt der Historiker Michael Wolffsohn.
Beim Stichwort Frankreich denkt manch einer an die antisemitischen Ausfälle gegen den französischen Philosophen Alain Finkielkraut am Rande von »Gelbwesten«-Protesten in Paris. Oder an die Ermordung der Holocaust-Überlebenden Mireille Knoll 2018. Die Zahl antisemitischer Vorfälle in Frankreich stieg laut offiziellen Angaben zwischen 2017 und 2018 von 311 auf 541.
EU-KOMMISSION Gegen Antisemitismus verabschiedeten die EU-Innenminister 2018 eine Erklärung. Sie rufen dazu auf, jüdische Gemeinden und Institutionen besser zu schützen. Und die Antisemitismusbeauftragte der EU-Kommission, Katharina von Schnurbein, kündigte eine neue Arbeitsgruppe an, die sich auf europäischer Ebene mit jüdischen Themen befassen wolle.
EVP-Spitzenkandidat Manfred Weber (CSU) will einen Pakt gegen Antisemitismus auf den Weg bringen.
EVP-Spitzenkandidat Manfred Weber (CSU) will einen Pakt gegen Antisemitismus auf den Weg bringen, sollte er zum EU-Kommissionspräsidenten gewählt werden. Schuster nennt diese Pläne einen wichtigen Schritt - betont aber, dass alle Bürger beim Einsatz für Demokratie gefordert seien. »Ich hoffe, dass die Europawahl ein deutliches Bekenntnis zu Europa und zur Europäischen Union wird.« Er fürchte aber, »dass europafeindliche Parteien viele Stimmen bekommen könnten, weil Wähler die wegweisende Bedeutung dieser Wahl nicht erkennen und einen Denkzettel erteilen wollen«.
Vor einiger Zeit konstatierte der Historiker Michael Wolffsohn: »Ohne Sicherheit keine Freiheit.« Nur der Staat könne Antisemitismus bekämpfen. Sollten sich Juden physisch bedroht fühlen, gebe es »eine Alternative«: Israel als Zufluchtsort.