Wenn sich in Moskau der Tag dem Abend zuneigt, hat man gute Chancen, an der Metrostation »Barrikadjana« im Stadtzentrum Igor Andrejew über den Weg zu laufen. Groß gewachsen, schwarzer Kurzhaarschnitt, schüchternes Lächeln. Er streckt den Passanten die Zeitung der Partei »Jabloko« (deutsch: Apfel) entgegen.
»Es gibt Leute, die diese Wahlwerbung für Geld machen«, erklärt Igor später bei einer Tasse Tee. »Aber ich nicht. Ich möchte das Land in Richtung Transparenz und Meinungsfreiheit verändern.« Igor ist 30 Jahre alt und jüdisch. Bis vor Kurzem hat er im Jüdischen Museum gearbeitet. Jetzt schreibt er Texte für verschiedene Online-Medien. Igor ist in Ufa geboren, einer Millionenstadt 100 Kilometer westlich des Ural, wo er auch Philosophie studiert hat. Nach dem Studium kam er nach Moskau.
Umfragen In Russland selbst stehen die Zeichen indes nicht auf Veränderung. Am 18. September wird eine neue Staatsduma, das russische Parlament, gewählt. Wenngleich ein Sieg der Putin-Partei »Einiges Russland« als ausgemachte Sache gilt, ist die Zustimmung zur Regierungspartei zuletzt laut Umfragen auf 31 Prozent gesunken. Die liberale Oppositionspartei »Jabloko«, die sich unter anderem für die Rückgabe der Krim an die Ukraine einsetzt, kommt in diesen Umfragen allerdings nur auf ein Prozent der Stimmen.
Doch Jablokos Gegenspieler ist in Wirklichkeit ein anderer: die Politikverdrossenheit der Russen. Eine niedrige Wahlbeteiligung hilft traditionell der Regierungspartei, da liberale, enttäuschte Moskauer, auf deren Stimmen die Opposition hofft, den Wahlen eher fern bleiben. Es gilt als offenes Geheimnis, dass der Urnengang von Dezember auf September vorverlegt wurde, um den Wahlkampf auf Sparflamme zu halten. Auch Igor gibt zu, noch nie zuvor gewählt zu haben. Aber jetzt ist alles anders, wie er findet: »Bei den letzten Wahlen war die Lage in Russland stabil, und Wladimir Putin konnte Garantien geben, weil er Geld hatte«, sagt er. »Aber jetzt ist die Situation eine andere: Die Wirtschaft ist in einem schlechten Zustand, und die Leute fangen an, Fragen zu stellen.«
Nur einen Steinwurf von Igors Wahlkampfstand entfernt, in einer ruhigen Nebenstraße, steht ein eleganter Bau aus dem 19. Jahrhundert: das Jüdische Kulturzentrum. Die Wahlen? Tatjana, eine junge Frau Ende 20, winkt ab. »Ich habe mich bewusst von der Politik abgewandt.« Maria Miraschowa, schlank und Lockenkopf, widerspricht ihr vehement. »Ich werde jetzt zum ersten Mal wählen gehen«, erklärt die 33-Jährige. Und wen? Dmitry Gudkow, der im Moskauer Nordwesten für ein Direktmandat kandidiert und bis zuletzt als der einzige wirkliche Oppositionelle in der Duma galt.
Bei diesen Wahlen wird die Hälfte der 450 Sitze in der Duma wieder über Direktmandate und nicht nur über Parteilisten besetzt. Das hat die Wahlen für einige Wähler – zumindest in den Kreisen, wo es interessante Kandidaten gibt – spannend gemacht.
Antisemitismus Marias Hoffnung, dass in der nächsten Duma zumindest eine oppositionelle Stimme vertreten sein wird, ist das eine. Ihre eigene Zukunft in Russland das andere. Der Antisemitismus sei zuletzt gestiegen, sagt sie: in den Gesprächen auf der Straße, in sozialen Netzwerken, in Online-Kommentaren. »Immer, wenn es so eine Krisensituation im Land gibt, nimmt der Antisemitismus zu«, sagt Maria.
Infolge des niedrigen Ölpreises und der westlichen Sanktionen steckt das Land in einer Rezession. »Vor fünf Jahren war den Leuten noch egal, dass ich Jüdin bin«, versichert Maria, heute sei das anders. Mit ihrem Mann war sie kürzlich bei der Jewish Agency, um sich über die Auswanderung nach Israel zu informieren.
Auch Igor, der Wahlkämpfer für die Jabloko-Partei, denkt darüber nach, Russland zu verlassen. Er zählt auf: der Kampf gegen die Meinungsfreiheit, der Druck gegen Andersdenkende in Politik und Religion, Druck auf die Intelligenzija. »Das Land nimmt mir alles weg, was mir lieb ist.«
Mob Als Igor zuletzt auf einer Online-Seite einen kritischen Artikel über die annektierte Halbinsel Krim geschrieben hat, wurde ihm die Zusammenarbeit für weitere Projekte aufgekündigt. Ein Freund, der bei einer Veranstaltung des Star-Oppositionellen Alexej Nawalni aufgetreten ist, wurde zuletzt von einem Mob geschlagen. Das hatte zwar nichts mit seinem Jüdischsein, sondern vielmehr mit seiner politischen Einstellung zu tun. Aber für Igor stehen die Zeichen auf Sturm. »Ich sehe für mich schlichtweg keine Perspektive in diesem Land«, sagt er.
Igor und Maria sind mit ihrem Wunsch zu emigrieren, nicht allein. Nach Daten des New World Report sind im vergangenen Jahr rund 6600 russische Juden nach Israel ausgewandert, ein Plus von mehr als 30 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Nach der letzten Volkszählung aus dem Jahr 2010 lebten zuletzt 156.000 Juden in Russland, mittlerweile soll die Zahl auf 135.000 geschrumpft sein. Seit dem Zerfall der Sowjetunion haben zwei Drittel der Juden Russland verlassen. Der American Jewish Congress geht davon aus, dass bis zum Jahr 2080 kaum noch Juden in Russland leben werden.
Für Aufsehen sorgte derweil die Aussage des russischen Präsidenten Wladimir Putin Anfang des Jahres, Russland sei »bereit, Juden aus Europa aufzunehmen«, die sich infolge des Terrorismus in Westeuropa zunehmend unsicher fühlen. Zuletzt kam allerdings der Kreml selbst in Erklärungsnot: Dass Putin mit Olga Wasiljewa eine neue Bildungsministerin ernannt hat, die Josef Stalin als einen »Segen für das Land« bezeichnet, hat vor allem auch unter Juden in Russland für Protest gesorgt. Die Föderation der europäischen Gemeinschaft Russlands hat sich vor wenigen Tagen an die neue Ministerin gewandt, sich öffentlich über ihre Einstellung zur Stalin-Zeit zu erklären. Bisher allerdings ohne Reaktion.
Es ist dunkel geworden in Moskau. Bis zu den Wahlen sind es nur noch wenige Tage. Wenige Tage, um vielleicht noch ein paar Passanten zu überzeugen. Trotz der recht aussichtslosen Lage für die Opposition möchte Igor nicht aufgeben. »Ich will die Hände nicht einfach in den Schoß legen, sondern selbst aktiv werden«, sagt er.