Sie schrien »Heil Hitler« und spuckten auf jüdische Symbole. Vier Wochen nach dem Terroranschlag auf einen koscheren Supermarkt in Paris verwüsteten fünf Jugendliche im Alter von 15 bis 17 Jahren 250 Gräber auf dem jüdischen Friedhof in der elsässischen Ortschaft Sarre-Union. Die Tat war kein dummer Jungenstreich, und die Jugendlichen wählten den Friedhof nicht zufällig aus. Dies bestätigt der ermittelnde Staatsanwalt Philippe Vanier: »Auch wenn die Betroffenen die antisemitische Motivation ihrer Tat zunächst bestritten, tritt sie klar zutage.«
Niemand randaliere »zufällig« auf einem jüdischen Friedhof – »und schon gar nicht, wenn man die Gegend kennt, weil man in der Nähe wohnt«, sagt Pierre Levy, der Regionalvorsitzende des Rates jüdischer Einrichtungen in Frankreich (CRIF). Jacques Wolff, einer der wenigen Juden in Sarre-Union, ist entsetzt von der Tat: »Vandalismus hat es hier schon mehrmals gegeben, aber es ist das erste Mal, dass so viele Gräber umgestürzt und zerstört wurden.« Er merkt an, dass die Täter auch einen Gedenkstein für die Opfer der Schoa zerstört haben. »Ich bin sehr betroffen, mein Vater kam in Auschwitz ums Leben.«
Zielscheibe Eine Friedhofsschändung in diesem Ausmaß hat es in Frankreich seit 25 Jahren nicht mehr gegeben. Nach den Terrorakten von Paris ist die jüdische Gemeinschaft abermals zur Zielscheibe geworden. Beide Verbrechen stehen für den »neuen Antisemitismus«, der sich in Frankreich breitmacht: Auf der einen Seite agieren islamistische Terroristen, die von radikalen Predigern indoktriniert werden.
Die werben ihre Gefolgsleute meist in den Vorstädten an, die mit sozialen Problemen kämpfen. Auf der anderen Seite verankert sich die rechte Gesinnung immer stärker im Land. Wirtschaftskrise und der rechtspopulistische Front National tragen dazu bei. Die Partei gilt als klarer Favorit bei den für Ende März anberaumten Wahlen in den Départements.
Doch nicht alle sehen, dass auch von Rechts eine Gefahr ausgeht. So sorgte Anfang der Woche CRIF-Präsident Roger Cukierman kurz vor dem jährlichen Dinner seiner Organisation, zu dem auch Frankreichs Staatspräsident François Hollande kam, für einen Eklat. Cukierman schob jegliche Schuld an antisemitischen Gewaltakten allein auf »junge Muslime« und verteidigte den Front National. Dessen Vorsitzender Marine Le Pen sei persönlich nichts vorzuwerfen, sagte er, auch wenn es in der Partei nach wie vor »Vichysten, Holocaustleugner und Pétainisten gebe«. Der Vertreter der muslimischen Dachorganisation CFCM, Dalil Boubakeur, sagte daraufhin seine Teilnahme an dem Dinner ab.
Präsident Hollande betonte in seiner Ansprache bei dem Dinner, Frankreich sei die Heimat der Juden – für Antisemiten sei kein Platz. Dennoch sorgen sich viele Juden um ihre Zukunft. »Wir fragen uns, wohin das noch führen soll«, sagt Martine Lambert, deren Eltern auf dem Friedhof in Sarre-Union beerdigt sind. Sie bringt auf den Punkt, was viele Juden denken: »Wir können ohne Bewachung keinen jüdischen Ort mehr betreten.« Ihr Mann Georges fügt hinzu: »Wir haben den Eindruck, ständig zu Opfern zu werden.«
Seit den Attentaten von Paris hat Frankreichs Regierung die Sicherheitsmaßnahmen für jüdische Einrichtungen erheblich verstärkt. Neben der Polizei bewacht nun auch das Militär Synagogen, Gemeindezentren und jüdische Schulen.
Justiz Was kann Frankreich gegen den Antisemitismus tun, und wie lässt sich der Anstieg derartiger Taten verhindern? Derzeit besteht die Antwort vor allem in Polizeipräsenz und einer schnellen Reaktion der Justizbehörden. Präsident François Hollande und Premierminister Manuel Valls versuchen, der jüdischen Gemeinde ein relatives Gefühl der Sicherheit zu vermitteln.
Bei seinem Besuch auf dem Friedhof in Sarre-Union versprach Hollande vergangene Woche ein weiteres Mal, mit aller Härte gegen Antisemitismus vorzugehen: »Strenge ist in dieser Situation die einzige Antwort. Wer auch immer in Frankreich derartige Taten begeht oder zu Hass und Gewalt aufruft, wird es mit der Republik und ihren Gesetzen zu tun bekommen. Wer antisemitische oder rassistische Taten begeht, wird gesucht, verhaftet und verurteilt.«
Führende Mitglieder der jüdischen Gemeinde wie der Oberrabbiner von Lyon, Richard Wertenschlag, loben das Vorgehen der Regierung, die sich in Sachen Antisemitismus so konsequent zeigt wie kaum eine Regierung vor ihr. Das Problem ist allerdings, dass sich eine Gesinnung, sei sie nun islamistisch oder rechts, kaum durch bewaffnete Polizisten abschaffen lässt.
Die Wurzeln des Übels reichen tief in die französische Gesellschaft. Vor allem das Bildungssystem, das jungen Franzosen offenbar nicht genügend historisches Wissen und Toleranz gegenüber ihren Mitmenschen vermittelt, steht in der Kritik. »Für mich tritt hier ein Desaster des staatlichen Bildungswesens zutage, das den Kindern offenbar nicht einmal ein Minimum an Respekt im Leben beibringt«, meint Roger Cukierman. Es gebe keine Moral und keine Ethik mehr. »Wenn man in diesem Alter dazu fähig ist, systematisch Gräber zu entweihen, hat die Republik versagt.«
Laizismus In Frankreich gilt das Verfassungsprinzip der Laizität, also der Trennung von Staat und Kirche. Daher gibt es an öffentlichen Schulen keinen Religionsunterricht. Das Thema Religion wird zumeist im Rahmen des Geschichtsunterrichts, also nur aus historischer Perspektive, behandelt. Der Lehrplan weist deutliche Lücken auf: So werden das Judentum und auch der Islam nur kurz gestreift. Sozialkundeunterricht findet bruchstückhaft statt. Nach Informationen des CRIF kommt es teilweise schon in der Grundschule zu antisemitischen Anfeindungen.
Die französische Regierung ist sich der Schwächen des staatlichen Schulwesens durchaus bewusst. Präsident Hollande und Bildungsministerin Najat Vallaut-Belkacem hatten bereits nach dem Anschlag auf die Redaktion von Charlie Hebdo angekündigt, dass die »künftigen Bürger stärker in den Werten der Republik unterrichtet werden« müssen. Der Vermittlung »bürgerlicher und moralischer Tugenden« solle in Zukunft mehr Raum gegeben werden. Zugleich kündigte die Ministerin an, dass jeder Schüler, der »den Werten der Republik« zuwiderhandle, bestraft wird. Für Mitte März ist zum ersten Mal eine Aktionswoche gegen Rassismus und Antisemitismus geplant. Solche Maßnahmen können allerdings nur langfristig wirken. Viele Juden wollen darauf nicht mehr warten. Sie ziehen es vor, Frankreich Adieu zu sagen.
Nach den Attentaten von Paris und der Friedhofsschändung im Elsass wächst das Interesse an der Alija, der Auswanderung nach Israel. Die Jewish Agency in Paris bestätigt, dass die Zahl der Interessenten in die Höhe geschnellt ist. »Normalerweise schreiben sich pro Woche etwa 150 Personen ein, um an den Informationsmessen teilzunehmen. Seit den Pariser Anschlägen sind es jede Woche fast 2000.«
Für das Jahr 2015 rechnet die Jewish Agency mit etwa 10.000 Auswanderern. Oftmals sind es junge Erwachsene oder Eltern mit ihren Kindern. Sie wünschen sich eine bessere Zukunft für ihre Söhne und Töchter. Auch die Tochter des Anwalts Erick Lebahr, die den Terroranschlag auf die jüdische Schule in Toulouse im März 2012 miterlebt hat, will nach dem Abitur nach Israel gehen. Ihr Bruder spielt ebenfalls mit dem Gedanken, er sieht in Frankreich keine wirtschaftliche Perspektive mehr.
Schule Der Arzt Edgar Cohen lebt bereits seit einem Jahr in Israel. Er habe es nicht mehr ausgehalten, dass seine Söhne unter polizeilicher Bewachung zur Schule gingen, sagt er. »Ich hatte genug davon, mich als Jude ständig verteidigen zu müssen.«
Seit dem Anschlag auf die Schule haben etliche Juden Toulouse verlassen. 2014 waren es rund 100, dieses Jahr werden es sehr viel mehr sein. Ein zunehmend beliebtes Auswanderungsziel französischer Juden ist Kanada, und da vor allem die französischsprachige Provinz Québec.
Das Thema Alija führt immer wieder zu Spannungen zwischen Frankreich und Israel. Nach dem Terroranschlag am 14. Februar in Kopenhagen und der Friedhofsschändung im Elsass rief Israels Premierminister Benjamin Netanjahu Europas Juden erneut auf, ins Heilige Land überzusiedeln. Präsident Hollande hielt dem entgegen, er akzeptiere es nicht, durchblicken zu lassen, die Juden in Europa und Frankreich seien nicht mehr wohlgelitten.
»Wenn sich jemand aus freien Stücken für die Alija entscheidet, ist das toll. Aber sie darf keine Flucht sein, das wäre tragisch«, sagt Frankreichs Oberrabbiner Haïm Korsia. Tatsächlich ist die Angst vor dem grassierenden Antisemitismus und der Wunsch, das Judentum offen zu leben, die Hauptmotivation vieler jüdischer Franzosen.
So ging es auch der Journalistin Sarah Barembaum, die Frankreich vor mehr als zehn Jahren verlassen hat. In einem Kommentar für den Tel Aviver Fernsehsender i24news, bei dem sie seit ihrer Auswanderung arbeitet, schreibt sie: »Der Mord an Ilan Halimi im Februar 2006 war meine rote Linie. Als der Leichnam ein Jahr nach seinem Tod nach Israel überführt wurde, damit man nicht auf sein Grab spucken kann, habe ich gewusst: Meine Entscheidung war richtig.«