So viel Streit war nie. Seit die nationalpopulistische Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) an der Macht ist und ihre Gunst nach dem Prinzip »Teile und herrsche« vergibt, kocht auch den Juden in Polen immer wieder die Galle hoch.
Bislang lebten weltliche und religiöse Juden, polnische und ausländische, mehr oder minder friedlich nebeneinander her. Doch vor ein paar Tagen brach ein Streit aus, der so schnell nicht mehr beizulegen sein wird.
In einem offenen Brief hatten die Vertreter der neun jüdischen Gemeinden in Polen an den PiS-Vorsitzenden Jaroslaw Kaczynski appelliert, sich öffentlich klar und deutlich vom zunehmenden Antisemitismus im Land zu distanzieren. Doch zum Gespräch ein paar Tage später lud Kaczynski nicht etwa die Autoren des Briefes ein, sondern den Vorsitzenden der Jüdischen Sozial-Kulturellen Gesellschaft (TSKZ) sowie drei ausländische Chefs jüdischer Stiftungen in Polen.
Nach diesem Treffen gab die Partei eine Pressemitteilung heraus, der zufolge Jaroslaw Kaczynski sich mit »Vertretern der jüdischen Gemeinschaft« getroffen habe, um mit ihnen über die polnisch-jüdischen Beziehungen zu sprechen – »auch im Zusammenhang mit dem Artikel in der Washington Post«.
Washington Post Die rechtsnationale und der Regierungspartei PiS nahestehende Zeitschrift »Do Rzeczy« klärte ihre Leser sogleich darüber auf, dass die Washington Post und überhaupt »die westliche Presse« vor Kurzem erst vor einem wachsenden Antisemitismus in Polen gewarnt hätten.
Dass ausländische Zeitungen über den offenen Brief der jüdischen Gemeinden Polens an Kaczynski berichtet hatten, erwähnte das Blatt nicht. Der PiS-Parteivorsitzende, so »Do Rzeczy« weiter, habe sich entschlossen, diese Artikel »als Lüge zu entlarven und sich mit der jüdischen Gemeinschaft zu treffen«.
Dann folgt die Aufzählung der Teilnehmer des Treffens: Artur Hofman, der TSKZ-Vorsitzende, Rabbi Eliezer Gurary, Chabad-Gesandter von Krakau, Shalom Ber Stamb- ler, Rabbiner der Chabad-Lubawitsch-Synagoge in Warschau, sowie Jonny Daniels, Chef der Stiftung »From the Depths«.
Das Problem: Außer dem aus Niederschlesien stammenden Schauspieler, Theaterregisseur und Publizisten Hofman, der von den mehr als 1000 Mitgliedern des TSKZ zum Vorsitzenden gewählt wurde, vertreten die anderen Gesprächspartner Kaczynskis nicht die jüdischen Gemeinden des Landes. Sie wurden von niemandem gewählt.
Der Brite Jonny Daniels ist PR-Manager und betreibt eine eigene Stiftung. Die Rabbiner Stambler und Gurary wiederum wurden von der New Yorker Chabad-Zentrale nach Polen entsandt, um dort an die früher bedeutende Tradition der Chassiden anzuknüpfen. Dies betonte Rabbi Stambler in einer Fernsehdebatte mit Leslaw Piszewski, dem Vorsitzenden der jüdischen Dachorganisation des Landes: »Unser Rebbe sagt: ›Dort, wo es noch kein Chabad Lubawitsch gibt, müssen wir hingehen.‹« In Warschau und Krakau gibt es seit rund zwölf Jahren Chabad-Niederlassungen, denen die beiden Rabbiner vorstehen.
Übergriffe »Wir schreiben nicht jeden Tag offene Briefe an die Regierung oder den faktisch mächtigsten Mann Polens«, erklärt Zentralrats-Chef Piszewski. »Aber Anna Chipczynska, die Vorsitzende der jüdischen Gemeinde Warschaus, und ich sind zur Überzeugung gekommen, dass es so nicht weitergehen kann. Wir werden fast jeden Tag angegriffen – vor allem verbal, aber es kommt auch zu physischen Übergriffen. Unsere Friedhöfe werden geschändet, jüdische Häuser und frühere Synagogen mit ›Jude raus‹ oder Hakenkreuzen beschmiert.« Die polnischen Verbre- chen an Juden, zu denen es in der Vergan- genheit immer wieder gekommen ist, würden heute sogar von der Bildungsminis- terin geleugnet.
»Wir haben Angst um unsere Sicherheit, und wir brauchen Hilfe von unserer Regierung«, so Piszewski. Mehrfach habe der jüdische Gemeindeverband bereits um einen Termin bei Innenminister Mariusz Blaszczak gebeten, um mit ihm die Sicherheitslage der jüdischen Gemeinden im Land zu besprechen. »Doch der Minister und die ganze polnische Regierung ignorieren uns Juden. Dabei sind wir genauso Staatsbürger Polens wie alle anderen auch. Wir bezahlen hier unsere Steuern. Wir sind hier zu Hause.«
Foto Nach dem Treffen mit Kaczynski veröffentlichte als erster Jonny Daniels auf seiner Facebook-Seite einen Kommentar mit Bild: »Hinter uns liegt ein fantastisches und fruchtbares Treffen mit den Führern der jüdischen Gemeinschaft in Polen und Jaroslaw Kaczynski, dem Vorsitzenden der polnischen Regierungspartei. Wir stärken die polnisch-jüdischen Beziehungen.«
Kurz danach erklärte Hofman, die Statuten seiner Organisation sehen vor, den Antisemitismus nur da zu bekämpfen, »wo es tatsächlich zu antisemitischen Vorfällen kommt«. Denn, so Hofman weiter: »Wir wollen nicht, dass die jüdische Minderheit in einem rein politischen Streit ausgenutzt wird.« Den Vorwurf des wachsenden Antisemitismus in Polen hält Hofman für Teil eines »politischen Kriegs« gegen die Regierungspartei.
Gemeinsam mit Politikern der PiS planen Daniels und Hofman derzeit ein Museum zu Ehren der polnischen Judenretter im Zweiten Weltkrieg.
Rechtfertigung Nachdem es massiven Protest von mehr als einem Dutzend jüdischer Organisationen und Einzelpersonen wie Polens Oberrabbiner Michael Schudrich gegen »die Anmaßung« gegeben hatte, »stellvertretend für die ganze jüdische Gemeinschaft Polens zu sprechen«, rechtfertigten sich die Chabad-Rabbiner in einer öffentlichen Erklärung: »Wir fanden es angemessen, die Einladung anzunehmen, um über die Situation der jüdischen Gemeinschaft in Polen und Erscheinungen des Antisemitismus zu sprechen. (...) Der Parteivorsitzende Kaczynski nahm Stellung zu den aufgeworfenen Fragen, auch zu den Erscheinungen des Antisemitismus (...). Er machte deutlich, dass er den Antisemitismus verdamme, wie er in der Vergangenheit vorkam, ähnlich wie auch die Erscheinungen des Antisemitismus heute.«
Parteichef Kaczynski, der den Brandbrief der Gemeindevertreter mit dem dringenden Appell erhalten hatte, sich von den immer lauter auftretenden Antisemiten in Polen zu distanzieren, äußerte sich mit keinem Wort zu dem Treffen. Weder distanzierte er sich von den Antisemiten unter den PiS-Anhängern, noch sicherte er den jüdischen Gemeinden Sicherheit und Schutz zu.
Populismus »Hofjuden«, schäumte Sergiusz Kowalski, der Vorsitzende der Warschauer B’nai-B’rit-Loge, nachdem er von dem Treffen erfahren hatte. Noch schärfer wurde der jüdische Philosoph Jan Hartman in Krakau: »Im Namen der Mehrheit der polnischen Juden bekenne ich, dass wir uns für einige unserer Landsleute schämen, die sich aus purem Eigennutz – moralisch wie materiell – mit einer antidemokratischen, autoritären, korrumpierten und populistischen Macht abgeben, die noch dazu mit den antisemitischsten Elementen in unserem Staat flirtet.«
Inzwischen unterschrieben mehr als ein Dutzend jüdische Organisationen einen Protestbrief. Darin erklären sie explizit, dass sie sich bei dem Treffen der vier Herren mit Kaczynski nicht repräsentiert fühlen.
Auch Zentralrats-Chef Piszewski kann seine Enttäuschung kaum verbergen: »Wir haben sehr höflich an Kaczynski appelliert, sich öffentlich vom Antisemitismus zu distanzieren. Und wir warten immer noch auf seine Antwort.«