»Weit von wo? – Menschen in der Diaspora« ist der Titel der jüngsten Ausgabe des Jüdischen Echos. Das seit fast einem halben Jahrhundert in Wien erscheinende Magazin hat sich in den vergangenen 50 Jahren zu einer der wichtigsten Kulturzeitschriften im deutschsprachigen Raum entwickelt. Und das nicht erst seit die in Budapest geborene Wiener Journalistin Marta Halpert in die großen Fußstapfen von Gründer Leon Zelman getreten ist und nach dessen Tod 2007 die Chefredaktion übernommen hat.
Zelman gründete 1980 den »Jewish Welcome Service Vienna«. Die Aussöhnung zwischen vertriebenen Juden und Österreichern war das Ziel. Nachdem er mehrere Konzentrationslager überlebt hatte, war Zelman 1949 nach Wien gegangen. Das 1951 von ihm als Mitteilungsblatt der Jüdischen Hochschülerschaft mitbegründete Jüdische Echo versteht sich ebenfalls als Mittler zwischen Juden und Nichtjuden. Es möchte ein Diskussionsforum sein und, wie Chefredakteurin Halpert betont, »über den Tellerrand schauen«. Im Titel trägt es daher ebenfalls die Bezeichnung »Europäisches Forum für Kultur und Politik« – völlig zu Recht.
Diaspora Die Jahresausgabe 2010/2011 stellt denn auch im ersten Teil die hoch politische Frage, wo das geistige Zentrum des Judentums heute liegt: in Israel, Europa oder in den USA? Der zweite Teil der fast 200 Seiten starken Publikation widmet sich den globalen Migrationsbewegungen. Dazu greifen auch Schriftsteller zur Feder, die selbst in der Diaspora leben. Vladimir Vertlib etwa. Im früheren Leningrad geboren, emigrierte er als Fünfjähriger mit den Eltern nach Israel, kam dann in die Niederlande, nach Österreich, Italien, wieder nach Israel, in die USA und fasste schließlich Fuß in Salzburg. In Anlehnung an seinen ersten Roman Zwischenstationen (1999) schreibt er diesmal im Jüdischen Echo über die Ambivalenz der Diasporagefühle und darüber, dass junge Russen im »Zwischenraum« nicht heimisch geworden sind. Er selbst sagt von sich, »ich bin unterwegs«, die Identität sei im Fluss. »Es gibt unterschiedliche Farben, die wechseln. Ich weiß nicht, wo ich enden werde.«
Dass Identität etwas ist, das sich wandelt, betont auch der bulgarischstämmige Autor Dimitré Dinev. »Identität ist grenzenlos wie das Universum.« Und: Migration sei ein eindeutig negativer Begriff. Über die grüne Grenze gelang Dinev 1990 die Flucht nach Österreich. Sein Beitrag im Jüdischen Echo ist den Bulgaren, Rumänen und Serben gewidmet und dem »Antanzen gegen das Heimweh«. Einen Fixplatz in der neuen Ausgabe hat mit Andernorts wieder Doron Rabinovici.
Selbstbewusst Das aktuelle Heft lässt den inhaltlichen Bogen von der Diaspora der Griechen, Portugiesen, Mitteleuropäer, Nordafrikaner und selbstverständlich Israelis bis hin zur Frage der Assimilation verlaufen. »Erprobt in Wien: der aufrechte Gang« nennt sich der Beitrag von Ariel Muzicant. Dort ist trotz Antisemitismus und Assimilation eine neue selbstbewusste Gemeinde entstanden, unterstreicht der Präsident der Israelitischen Kultusgemeinde Wien. Der Triester Literaturwissenschaftler und Romancier Claudio Magris meint im Interview mit Marta Halpert: »Jude zu sein ist eine unglaubliche Waffe gegen jeden engstirnigen Lokalpatriotismus.« Möge Das Jüdische Echo noch viele derart hochkarätige Beiträge zu Europas Kultur und Politik liefern.
Das Jüdische Echo. Europäisches Forum
für Kultur und Politik, Vol. 59, 2010/2011, 184 S., 14,50 €. Erhältlich im Buchhandel oder unter www.faltershop.at