Ende Juni gibt Birgit E. Klein ihr Amt ab. Acht Monate lang war die 57-jährige Rabbinerin der liberalen Gemeinde von Straßburg. Doch ihre Arbeit als Inhaberin des Lehrstuhls für Geschichte des jüdischen Volkes an der Hochschule für Jüdische Studien in Heidelberg habe sich mit der nebenberuflichen Tätigkeit einer Gemeinderabbinerin organisatorisch nicht vereinbaren lassen.
»Das ist schade«, sagt sie, »es ist eine spannende Herausforderung.« Die Kooperation um ein Jahr fortzusetzen, sei jedoch »keine Option« gewesen. Eine Gemeinde wolle nicht nur verwaltet werden.
vorgänger Birgit E. Klein hatte Lust zu gestalten, sie hatte sich Straßburg ganz bewusst ausgesucht. Als ihr Vorgänger, Rabbiner Stephen Berkowitz, nach Barcelona wechseln wollte, erfuhr sie früh von der frei werdenden Stelle. Wie Berkowitz ist sie Anhängerin des Rekonstruktionismus, einer betont progressiven Strömung des Judentums. »Es hat mich gereizt, meine Kenntnisse der Weiterentwicklung des jüdischen Lebens zur Verfügung zu stellen«, sagt sie.
Für die Rekonstruktionisten, die die Fort- und Weiterentwicklung des Judentums propagieren, ist eine Frau im Rabbinat ein Statement, gerade im konservativ-orthodoxen alemannischen Sprachraum, der links des Rheins das Elsass und rechtsrheinisch Baden umfasst. »Viele wissen nicht, dass es liberales Judentum gibt und dass eine Frau Rabbinerin werden kann. Dadurch, dass ich Rabbinerin bin und de facto diese Vielfalt vertrete, kann ich dazu beitragen, ein leider oft zu eindimensionales Bild des Judentums zu korrigieren.«
Straßburg in seiner städtebaulichen Anmut und Internationalität ist sehr reizvoll und von Heidelberg aus in knapp zwei Stunden per Bahn oder Auto zu erreichen. Vor allem aber verfügt die Stadt über ein funktionierendes und auf den Straßen durchaus sichtbares jüdisches Leben; es ist freilich orthodox. Als Klein vorigen Oktober in ihr Amt eingeführt wurde, soll der Konstitutionalrabbiner den Orthodoxen untersagt haben, an der Veranstaltung teilzunehmen. Doch viele, die in beiden Gemeinden Mitglied sind, haben es dennoch getan.
idealismus Letztlich aber musste sich der Idealismus den Gegebenheiten beugen: Im laizistischen Frankreich erhalten Religionsgemeinschaften kein Geld vom Staat. Klein war auf Honorarbasis angestellt und hielt einmal im Monat zwei Schabbatgottesdienste. Gestalten und Fortentwickeln war unter diesen Umständen nur schwer möglich. Jedenfalls nicht für Birgit E. Klein. Denn als Professorin macht sie eine Sache entweder gründlich oder gar nicht.
Birgit E. Klein wurde in Krefeld geboren; sie kommt aus einem protestantischen Elternhaus und interessierte sich, wie sie sagt, früh für das Judentum. Sie studierte Judaistik und evangelische Theologie in Heidelberg, das eine war ein Herzenswunsch, das andere der vermeintlich sichere Brotberuf. Doch ins Pfarramt wollte sie nicht. Stattdessen ging sie nach Israel und lernte Hebräisch. In Jerusalem lernte sie eine Rabbinatsstudentin aus den USA kennen, hörte erstmals vom Rekonstruktionismus. Mit einem Jahresstipendium kehrte sie Anfang der 90er-Jahre an die Hebräische Universität Jerusalem zurück. 2004 promovierte sie zum Thema Jüdische Ehegüter und Erbrecht.
2006 wurde sie in Heidelberg als Nichtjüdin auf den Lehrstuhl für Geschichte des jüdischen Volkes berufen. 2011, nach einem Studienaufenthalt an der University of Pennsylvania, bei dem sie sich als Mitglied einer Forschungsgruppe über Monate hinweg mit dem Thema Übertritt vom und zum Judentum beschäftigt hatte, konvertierte sie.
rekonstruktionismus »Es war eine späte, wohl abgewogene Entscheidung.« Als sie nach dem Studium auf Jobsuche war, wollte sie keinesfalls aus opportunistischen Gründen übertreten; und als sie die Professur erhielt, wollte sie keinesfalls den Eindruck erwecken, sie konvertiere aus reiner Dankbarkeit. Ihr Zögern und Zaudern habe, sagt sie, auch mit einem Ereignis zu tun, das sie als Judaistikstudentin aufgewühlt habe: Am Kölner Martin-Buber-Institut hatte 1984 eine Konvertitin einen nichtjüdischen Judaisten erschossen, eben, weil dieser kein Jude gewesen war.
Seit 2017 ist Birgit E. Klein auch Rabbinerin. An einem College der rekonstruktionistischen Bewegung in Pennsylvania erwarb sie den Master of Arts in Hebrew Letters.
Wird sie, nachdem sie in Straßburg an den Umständen gescheitert ist, noch einmal Anlauf nehmen, ein Gemeinderabbinat zu übernehmen? Klein könnte es sich wohl vorstellen. Aber sie verweist darauf, dass von den Judaistik-Absolventen nur ein Drittel ein Amt in einer Gemeinde anstrebt. Sie sei nun, wie viele Kolleginnen und Kollegen in den USA, ein »liberal freelance Rabbi«. »Ich kann bei fast allen Amtshandlungen fungieren, ohne an eine Gemeinde gebunden zu sein.« An ihrer Heidelberger Hochschule arbeitet sie kollegial mit dem orthodoxen Hochschulrabbiner zusammen, sie ist ihm gleichgestellt und hält Gottesdienste.
vielfalt Diese Offenheit und Vielfalt, davon ist Klein überzeugt, sei die Zukunft. Liberales Judentum beziehe auch den kulturell-säkularen Bereich mit ein. »Für mich ist das eine wichtige Voraussetzung für jüdisches Leben in Deutschland. Menschen, die keinen Zugang zur religiösen Praxis haben, werden von einem Gottesdienst, so liberal er auch gestaltet sein mag, nicht angesprochen.« Darum sei sie Anhängerin des Rekonstruktionismus. »Judentum rekonstruieren bezieht auch sehr aktiv nichtjüdische Familienmitglieder mit ein sowie Kinder, die in interreligiösen Beziehungen aufwachsen. Der konstruktive Umgang mit dem Thema ist wichtig für die Zukunft des Judentums.«
Dass sie als liberale Rabbinerin keinen leichten Stand hat in einer Zeit, da der Liberalismus weltweit unter Druck gerät – sowohl religiös als auch säkular –, das kennt Klein bereits von ihren regelmäßigen Aufenthalten in Amerika. »Obschon die Lage nach der Wahl von Donald Trump schwierig war, habe ich so viel positive Erfahrung mitgebracht. Die Arbeit der amerikanischen Kollegen hat mir gezeigt, wie wichtig es ist, sich aktiv einzubringen.«