Österreich

Zwei Jahrzehnte neues Licht

Der Pianist schaut in den Synagogenraum, zählt die Besucher. Sieben Männer und acht Frauen sitzen bereits, den Siddur auf dem Schoß, und plaudern. »Okay, wir haben einen Minjan«, ruft der Mann und nickt dem Kantor zu, der soeben den Raum betritt. Es ist Schawuot und die Wiener Reformgemeinde Or Chadasch (auf Deutsch »neues Licht«) versammelt sich zum Gottesdienst. Bis Rabbiner Walter Rothschild, der die kleine Gemeinde derzeit als Wanderrabbiner neben vier anderen Gemeinden in Deutschland betreut, den Raum betritt, sind die Reihen bereits gut gefüllt.

schwerer Anfang Am ersten Juni-Wochenende feiert Or Chadasch sein 20-jähriges Bestehen. »Ich habe lange Zeit in der Schweiz gelebt und dort das Reformjudentum kennengelernt«, sagt Gemeindepräsident Theodor Much. Zurück in Wien fehlte ihm ein solcher Ort, an dem es vor allem eines gibt: die Gleichberechtigung der Geschlechter. Doch der Anfang zog sich hin. »Gleichgesinnte zu finden, war gar nicht so einfach.« Warum? »Weil wir hier keine liberalen Traditionen haben, weder politisch noch religiös.«

Während es in Deutschland vor der Schoa viele Reformgemeinden gab, war dies in Österreich nicht so. In Ungarn etwa gab es neologe Synagogen. In Wien wurde der erste offizielle jüdische Reformgottesdienst am 4. Mai 1990 gefeiert – bei Or Chadasch. Rothschild sagt, es gebe einen alten Spruch: »Wie es christelt sich, so jüdelt es sich.« Soll heißen: »Liberales Judentum wächst in protestantischen Ländern besser.«

nomaden Anfangs zog die Gemeinde »wie eine Gruppe von Nomaden« durch die Stadt, hielt den Gottesdienst mal hier und mal dort, erinnert sich Much. Seit 2004 haben sie eine eigene Synagoge. Zur Verfügung gestellt hat die Räumlichkeiten die Israelitische Kultusgemeinde (IKG) Wien, eine Einheitsgemeinde, die wie ein Dach über den verschiedensten Synagogenvereinen und Bethäusern fungiert. Umgebaut und renoviert hat Or Chadasch das Gebäude mit finanzieller Hilfe des Bundes und der Stadt Wien.

»Nun haben wir ein Zuhause«, sagt Theodor Much, »eine moderne, schöne Synagoge.« Dadurch könne man viel mehr bieten. Gottesdienste, die jüdischen Feste, Hochzeiten, Bar- und Batmizwas, Inzwischen gibt es auch Hebräisch- und Religionsunterricht bei Or Chadasch für Kinder und Erwachsene sowie ein Kulturprogramm und auch Kurse für Menschen, die zum Judentum übertreten wollen.

Beit Din Letztere sind einer der Gründe, warum den Wiener Reformjuden von der Orthodoxie bis heute Vorbehalte entgegengebracht werden, obgleich Much auch betont, dass das Verhältnis zur IKG heute ein gutes sei. Auch bei Or Chadasch müssen die Kandidaten vor einem Übertritt viel lernen, bis sie vor den Beit Din, das Rabbinatsgericht, treten. »Aber wir weisen die Leute nicht gleich ab«, betont Much.

Über die Zusammensetzung seiner Gemeinde gefragt, sagt Rabbiner Rothschild, sie bestehe einerseits aus vielen Menschen, die nicht in Wien geboren und in ihrer alten Heimat bereits Mitglied einer Reformgemeinde gewesen seien. Andererseits gebe es eine »sichtbare Gruppe« von Konvertiten. »In einer großen Gemeinde fallen zehn Leute nicht auf, in einer kleinen schon.« Derzeit gehören an die 100 Familien zu Or Chadasch, so Much.

Der augenfälligste Unterschied zu den anderen Wiener Synagogen: Hier sitzen Frauen neben Männern, einige der weiblichen Mitglieder tragen Gebetsschal und Kippa und werden zur Tora aufgerufen. Or Chadasch brachte auch die erste Rabbinerin nach Wien: Evelyn Goodman-Thau. Auf sie folgte Irit Shilor. Gleichberechtigung auf allen Ebenen.

Theologisch liege der größte Unterschied in der Offenbarungslehre, sagt Much. Während die Orthodoxie meine, dass der Tora nichts mehr hinzuzufügen ist, glaubt man im progressiven Judentum an permanente Anpassung.

kaschrut Ob die Gemeindemitglieder ausschließlich koscher essen, bleibt bei Or Chadasch jedem selbst überlassen. Natürlich gebe es zum Kiddusch nur Koscheres, betont Much. Zu Hause nach Belieben, in der Synagoge koscher – so sei die Praxis auch in orthodox geführten Synagogen, sagt Rothschild. Wiens Oberrabbiner Paul Chaim Eisenberg und dessen Vater hätten es stets verstanden, allen ein Dach zu bieten. So würde der orthodoxe Stadttempel von jenen besucht, die zu Hause kein orthodoxes Leben führen. Dies mag ein Grund sein, warum viele der rund 7.000 IKG-Mitglieder nicht das Bedürfnis hätten, einer Reformgemeinde beizutreten, so Rothschild.

Or Chadasch sei aber in Österreich bestimmt die aktivste jüdische Gemeinde, sagt Much stolz. Wer hier Mitglied wird, engagiert sich auch. Der Festakt zum 20. Gründungsjubiläum am heutigen Donnerstag steht unter dem Motto »Der Tradition treu und offen für die Moderne«.

www.orchadasch.at

Brüssel

Kurswechsel in Belgien?

Am Montag vereidigte König Philippe die neue Föderalregierung unter Führung des flämischen Nationalisten Bart De Wever. Nicht nur im Hinblick auf Nahost dürfte sich einiges ändern

von Michael Thaidigsmann  04.02.2025

Rom

Achtjähriger getreten, geschlagen und bedroht, weil er eine Kippa trug

Der Täter zückte einen abgebrochenen Flaschenhals, als die Mutter und eine Ladeninhaberin ihn aufhalten wollten

 04.02.2025

Angouleme

Charlie-Hebdo-Karikaturist für Comic über Nazi-Raubkunst geehrt

Nach der Terrorattacke auf sein Satire-Blatt vor zehn Jahren wurde Renald Luzier Comic-Buch-Autor

 03.02.2025

Berlin

Friedman: Totalitäre Regime verbreiten Fantasiegeschichten

Der Publizist sieht die westlichen Demokratien zunehmend unter Druck

 03.02.2025

Andorra

Kleiner, sicherer Hafen?

Die Toleranz hat Geschichte im Zwergstaat zwischen Frankreich und Spanien. Aber die jüdische Gemeinschaft darf keine erkennbare Synagoge haben

von Mark Feldon  02.02.2025

Italien

Kaffeeklatsch in Cinecittà

In den 50er- und 60er-Jahren kam Hollywood in die Ewige Stadt. Stars wie Marlon Brando, Audrey Hepburn und Charlie Chaplin zogen nach Rom. Ein neues Buch liefert den Tratsch dazu

von Sarah Thalia Pines  02.02.2025

Großbritannien

Lady Berger und Lord Katz

Zwei jüdische Labour-Abgeordnete wurden zu Mitgliedern des Oberhauses ernannt

von Daniel Zylbersztajn-Lewandowski  29.01.2025

Australien

Sydney: Polizei vereitelt Sprengstoffanschlag auf Synagoge

In Sydney wurde ein mit Powergel beladener Wohnwagen sichergestellt - zu den Hintergründen wird noch ermittelt

 29.01.2025

Berlin

Wie ein Holocaust-Überlebender aus der Ukraine auf Deutschland blickt

Er überlebte den Holocaust - und muss nun erleben, wie seine Heimatstadt Odessa von Russland bombardiert wird. An diesem Mittwoch hat Roman Schwarzman die Chance, im Bundestag einen Appell an den Westen zu richten

von Bernhard Clasen  29.01.2025