An Arbeit mangelt es dem psychosozialen Zentrum ESRA derzeit nicht – auch wenn die Klienten dem Haus in diesen Tagen nicht physisch die Tür einrennen und es äußerlich so scheint, als herrsche Stille hinter den Mauern in der Tempelgasse 5 im zweiten Wiener Gemeindebezirk.
Erst kam der Lockdown, jetzt die von der Bundesregierung in Wien gerne als »Neue Realität« bezeichnete Rückkehr zu einem nicht ganz so normalen Normalzustand: Die vergangenen Monate haben Spuren hinterlassen. Sie haben bisherige Arbeitsabläufe, Behandlungsmethoden, Vorgehensweisen auf den Kopf gestellt. Und vor allem: Sie haben neue Problemfelder aufgeworfen.
schoa-überlebende ESRA behandelt überwiegend Patienten mit Traumafolgestörungen, bietet Therapien und Sozialberatung. ESRA ist eine ambulante Gesundheitseinrichtung für überwiegend jüdische Patienten, Schoa-Überlebende und deren Nachfahren, aber auch für traumatisierte Flüchtlinge. Das ist Arbeit, die des direkten Kontakts bedarf, eines offenen Umgangs. Aber dann kam Corona.
Heute wird am Eingang die Temperatur gemessen, es gelten strenge Zugangsbeschränkungen und Hygieneregeln. Hinein darf nur, wer einen Termin hat.
Quasi über Nacht hat ESRA Anfang März auf Telemedizin, Skype und Zoom umgestellt.
Quasi über Nacht hat ESRA Anfang März auf Telemedizin, Skype und Zoom umgestellt und auch offensiv versucht, Klienten telefonisch zu erreichen. Ein gewaltiger Aufwand, bedenkt man, dass ESRA vor Corona im Durchschnitt 1000 bis 1200 Patienten und Klienten pro Monat betreute. Im März waren es dann plötzlich 1500. Derzeit sind es monatlich wieder durchschnittlich 1100. Und ganz ohne direkten Kontakt geht es nicht.
INNENHOF Gerda Netopil ist Leiterin der Sozialen Arbeit bei ESRA. Die neue Realität schildert sie so: »Wir haben persönliche Kontakte dort, wo es möglich ist. Wo es der Behandlung förderlich ist, machen wir aber mit der Telemedizin weiter.« Und dann ist da der rettende Innenhof: Dort werden Gruppenangebote besonders für traumatisierte Patienten und während des Sommers soziale Gruppen für ältere Klienten organisiert.
»Wir versuchen einen Mix aus Angeboten: im Freien, damit soziale Kontakte ›face to face‹ stattfinden, direkt«, sagt sie. Für die, die das nicht wollen, werden Gruppen via digitaler Werkzeuge wie Zoom angeboten. Etwas, das, wie Gerda Netopil sagt, »wider Erwarten sehr gut angenommen wird«. Auch von älteren Patienten.
Aber so wie früher, wenn etwa eine ältere Dame einfach mal so ohne Termin vorbeikam, schnell ein paar hilfreiche Worte gesprochen wurden, geht das nicht mehr. »Leider«, wie Gerda Netopil sagt. Und letztlich könnten Skype und Zoom eine direkte Konsultation eben auch nicht ersetzen. Denn wer könne schon garantieren, dass eine Person zu Hause tatsächlich auch den Raum hat, um frei von der Seele reden zu können? Besser gehe das bei Konsultationen im Rahmen der Sozialberatung. Bei Therapien sei das schwieriger.
provisorium Dass all dies ein Provisorium ist, ist klar. Klar ist aber auch, dass es eines ist, das zumindest für absehbare Zeit wird halten müssen. Da sind etwa die Personen, die, wie Gerda Netopil sagt, »keinen Zugang zum und kein Wissen über das Internet haben«.
Da sind aber auch diejenigen, die sich mit dem Telefonieren schwertun. Da sind Patienten mit mangelnden Sprachkenntnissen, was eine Kommunikation über Telefon oder Internet praktisch unmöglich macht.
Und da sind ältere, immobile Patienten, die soziale Gruppenangebote weiter weg im Freien nicht nutzen können. All das sind Menschen, die während des Shutdowns praktisch durch das Betreuungsnetz fielen. Jetzt können wieder Behandlung und Beratung im persönlichen Kontakt angeboten werden.
FAMILIEN Und es gibt natürlich auch die nach wie vor vorhandenen Problemfelder, die schon vor der Corona-Krise bestanden – zusätzlich zu denen, die Corona erst hervorgebracht hat. Gerda Netopil sagt aber auch, »dass dieser Shutdown sich unterm Strich nicht retraumatisierend ausgewirkt hat«. Er habe alle gleichermaßen betroffen, sei also ein Kollektiverlebnis und eben keine »von Menschenhand gemachte traumatische Gewalterfahrung«.
Der Hof des Hauses dient als Ausweichquartier für Gruppenaktivitäten.
Folgen hat er dennoch. Und die werden bereits sichtbar, wie Netopil sagt: finanzielle Probleme in Familienverbänden, die zu Beziehungsproblemen führen, eine Mehrbelastung von Frauen, vor allem Alleinerziehenden, vermehrter Alkoholmissbrauch, innerfamiliäre Gewalt, Ängste, wirtschaftliche Sorgen, Arbeitslosigkeit mit all ihren Folgen.
Sie nennt ein Beispiel: eine Familie, in der die Frau eine chronische Erkrankung hat und bereits vor Corona regelmäßig Behandlung bei ESRA erhielt, was sich bereits damals auf die Ehe und die beiden Kinder des Paares ausgewirkt hat. Die Kinder wurden verhaltensauffällig und von der Schule an ESRA vermittelt, wo sie und die gesamte Familie psychologische Hilfe erhielten. Jetzt hat der Mann einen Teil seines Einkommens verloren. ESRA setzte die psychologische Betreuung fort und vermittelte über die Sozialberatung staatliche Hilfen: Wohnbeihilfe, Mindestsicherung sowie Unterstützung für die pflegebedürftigen Eltern des Vaters.
DISTANZIERUNG »Es kann viele Folgen geben«, sagt Gerda Netopil. Vieles werde von der Situation im Herbst abhängen und davon, wie sich die Schulsituation einpendelt. Denn vorrangig die Schließung der Schulen habe gezeigt, dass der Lockdown gerade für jüngere Kinder schwieriger war als für ältere. Vor allem habe sich bei jüngeren Kindern das soziale Umfeld massiv ausgewirkt – ob sie beim Lernen und in der Freizeit von ihren Eltern Unterstützung erhielten oder nicht.
Der Lockdown war für jüngere Kinder schwieriger als für ältere.
Dass die »soziale Distanzierung« dauerhaft schwerwiegende Auswirkungen haben wird, glaubt Gerda Netopil jedoch eher nicht. Sozialer Kontakt funktioniere schließlich auch über das Telefon oder das Internet – »anders, aber er funktioniert«.
»Das Zusammenspiel vieler verschiedener Faktoren wird den Ausschlag geben, ob sich die soziale Kluft verstärken wird«, sagt sie. Die wirkliche Gefahr in dieser Situation sei, »wenn Arme und die Mittelklasse ärmer werden, wenn der Lebensstandard hinunter geht, im Vergleich zu anderen, die es etwas besser haben in dieser Lage«.
probleme Der Herbst wird bei ESRA aber auch ganz profane Probleme mit sich bringen – nicht, weil in Wien Wahlen stattfinden, die bereits ihre Schatten voraus werfen. »Wir hoffen, dass der Wahlkampf in unsere Arbeit nicht hineinspielt.« Vielmehr ist es der Platzmangel, der zum Problem wird. Die strengen Hygienevorschriften haben dazu geführt, dass schon jetzt viele Mitarbeiter von zu Hause arbeiten, um Platz für unabdingbare direkte Konsultationen freizumachen. Der Hof des Hauses hat sich als rettendes Ausweichquartier für Gruppenaktivitäten bewährt.
Ab Herbst wird das aber nicht mehr möglich sein. Und dann sei da noch der Schutz der Mitarbeiter, den es zu wahren gelte. Alles in allem sei es ein Mix, sagt Gerda Netopil, eine Improvisation auf vielen Ebenen – was Betreuungsangebote angeht, die räumliche Organisation, vor allem aber auch, was die sich verändernden Notlagen der Klienten und Patienten betrifft.