Wein – das war bis vor einem Jahr für viele Briten einer der wichtigsten Gründe, über den Ärmelkanal nach Calais zu reisen. So stolpert man in einem Industriegebiet am Rand der nordfranzösischen Stadt über riesige Hallen, vor denen Werbetafeln den »besten französischen Wein« der Stadt anpreisen. In Kartons wird er palettenweise in Autos mit britischem Kennzeichen geladen, die sich sodann per Bahn oder Fähre wieder auf den Rückweg machen.
Ganz in der Nähe befindet sich ein gigantischer Lagerkomplex. Auch hier sind Briten den ganzen Tag über damit beschäftigt, etwas zu verladen – allerdings in die umgekehrte Richtung. Säcke und Pakete für Flüchtlinge sind es, die sie aus Lastwagen tragen, in einer Halle zunächst sortieren und dann in Holzregalen verstauen. Von den Freiwilligen, die in Calais Flüchtlingen helfen, bilden Briten mit Abstand die größte Gruppe.
Minibus An einem ziemlich heißen Julitag biegt gegen Mittag ein weißer Minibus auf das Gelände. »WLS« steht darauf, die Abkürzung von »West London Synagogue of British Jews«. Früh am Morgen haben sich die zehn Freiwilligen auf den Weg gemacht – sieben Frauen, drei Männer – mit Spenden von den Mitgliedern verschiedenen Londoner Gemeinden. Alle vier bis sechs Wochen kommen Vertreter der WLS hierher, um Flüchtlingen zu helfen, die auf ihrem Weg nach Großbritannien in der nordfranzösischen Hafenstadt gestrandet sind.
Nic Schlagman, Community Project Manager der WLS, ist zum neunten Mal in Calais. Das Ausladen der Spenden nach der Ankunft ist für ihn Routine. Auch die Einführung, die eine andere britische Freiwillige der Gruppe gibt, kennt er auswendig: Sie sagt, man solle keine Fotos vom Warenlager machen wegen der Flüchtlingsgegner, die die Migranten und ihre Unterstützer angreifen. Sie erklärt, wie man am besten Lasten trägt und wie man den Flüchtlingen im »Dschungel«, dem inoffiziellen Camp draußen in den Dünen, mit Respekt begegnet.
Einige aus der Gruppe sind zum ersten Mal mit dabei. »Insgesamt habe ich im Laufe der Zeit etwa 60 Freiwillige hierher gebracht. Die Hälfte sind Londoner Juden, die anderen nichtjüdische Freiwillige«, sagt Schlagman. Auch heute seien drei Muslime und vier Christen dabei. Schlagman ist ein kräftiger Mann Mitte 30 mit Fünftagebart. Er trägt ein Amnesty-International-Shirt und eine Magen-David-Halskette. Im Schatten vor der Halle lehnt er sich an eine Karre mit Konserven und macht Pause. Um ihn herum nehmen immer mehr Helfer Platz, mit Tellern voll Reis, Gemüsesauce und Salat. Mittagessen.
Was die Freiwilligen aus London hierher bringt? Zum Einen ist da der Kontext der Gemeinde. Die WLS, erzählt Schlagman, hat sich in den 30er-, und 40er-Jahren stark für die sogenannten Kindertransporte engagiert. Viele Gemeindemitglieder sind selbst Nachfahren von Flüchtlingen. »Bei mir sind es drei meiner Großeltern«, sagt Schlagman. Für viele Asylbewerber ist die West London Synagogue heute eine Anlaufstelle. Sie hilft jeden Monat rund 120 Familien, betreibt ein Nachtasyl und eine Essensausgabe, bietet Sprachkurse an und berät.
Nic Schlagman ist seit fast zehn Jahren aktiv. Es sei eine Menge gewesen, die seine Gruppe im vergangenen Jahr getan habe für die Transitmigranten, die in Calais auf eine Möglichkeit warten, nach England zu gelangen. Von September bis November war die Hilfsbereitschaft enorm, damals brachte Schlagman manchmal zwei volle Kleinbusse mit Spenden und Freiwilligen aus London. Inzwischen hat die Unterstützung abgenommen.
»Es fehlt hier an allem Erdenklichen« – das hörten die Freiwilligen aus London schon bei der Ankunft. Täglich kommen etwa 35 neue Migranten in Calais an. Doch nur ein einziger Schlafsack konnte an diesem Morgen an sie ausgegeben werden. Nachdem im Frühjahr ein Teil des »Dschungels«, des inoffiziellen Flüchtlingscamps vor der Stadt, geräumt wurde, sind es inzwischen wieder um die 7000 Gestrandete, die am immer strenger bewachten Ärmelkanal festsitzen. So viele waren es noch nie. Und die Tendenz ist steigend.
Schlafsäcke David Lewis, mit Schlagman seit Kindheitstagen befreundet, wird mit einigen anderen später Schlafsäcke kaufen gehen. Erst aber gilt es, hinter der Halle in einem für Sägearbeiten reservierten Areal Holz zu hacken, für Feuer gegen die Kälte, die draußen in den Dünen auch im Sommer ein Thema ist, und um genügend Bretter für neue Unterkünfte zu haben. Lewis, ein langer Mittdreißiger mit Vollbart, der als Journalist und Comedian arbeitet, muss lachen. »Das ist gut: ein Jude, der körperlich arbeitet!«
Unterdessen erzählt Nic Schlagman, dass es innerhalb der Gemeinde durchaus Diskussionen über das Thema Flüchtlinge gibt. Neben Hilfsbereitschaft sei da auch Sorge. Ebenso sei umstritten, was das Ziel der compassionate policy, der »mitfühlenden Politik« gegenüber Flüchtlingen, nun beinhalte. Deutlich aber ist: Die Abbruch-Rhetorik, die momentan wieder zu hören ist, lehnt die Londoner Gemeinde ab.
Calais’ Bürgermeisterin hatte kürzlich angekündigt, den Rest des »Dschungels« zu räumen. Britische Rabbiner unterzeichneten daraufhin einen Aufruf: Man solle warten, bis zumindest die Kinder mit Anspruch auf Asyl über den Kanal geholt und die übrigen andernorts in Sicherheit gebracht worden sind.
Nach dem Mittagessen sind die meisten WLS-Helfer damit beschäftigt, Kleidung zu sortieren. Sie liegt aufgestapelt in schwarzen Plastiksäcken. Zunächst müssen die Sachen für Kleinkinder und Babys von denen für ältere Kinder getrennt werden. Auch Hannah Jacobs packt hier mit an. Die 19-Jährige ist eine der Jüngsten in der Gruppe. Vor einem Jahr hat sie die Schule beendet, nach dem Sommer will sie zum Studium nach Edinburgh gehen. Hinter ihr liegt ein Jahr, in dem sie einige Zeit in Südamerika verbrachte. Die Trekkingschuhe an ihren Füßen künden von Anden-Wanderungen, nun sind sie in Calais gut zu gebrauchen.
»Ich habe ein sehr privilegiertes Leben«, sagt sie. »Wenn du aufwächst und dir alles gegeben wird, willst du auch mal etwas für andere Menschen tun.« Als Freiwillige arbeitet Jacobs in London im Nachtauffang der Gemeinde auch mit Asylbewerbern. Dass sie diesen Freiwilligendienst tut, liege daran, dass sie »in einer jüdischen Familie groß geworden« ist, sagt sie. Schon seit Längerem sei sie Jugendleiterin in der Gemeinde. »Tikkun Olam – die Welt reparieren, darum geht es.«
Auch ihr erster Besuch in Calais steht unter diesem Zeichen. »Ziemlich aufgeregt«, sei sie gewesen, hierherzukommen, sagt sie.
Elend Der Nachmittag ist weit fortgeschritten, als sich der weiße Bus der WLS wieder in Bewegung setzt. Vorbei an den Wein-Handlungen geht es auf die Autobahn. Schnell ist man an dem Ort, der in den Nachrichten immer mehr zum Synonym für die Hafenstadt Calais und das Elend ihrer Migranten geworden ist: dem Dschungel.
Am Eingang liegt die im Winter gerodete Fläche, ein seltsames Stück Brachland vor der Autobahnbrücke, an deren Pfeiler jemand in riesigen Lettern »London Calling« gesprüht hat. Gegenüber haben Bewohner des Dschungels ein Laken aufgehängt, auf dem sie der Opfer des Terroranschlags in Nizza gedenken und den Angehörigen ihre Solidarität versichern.
Auszuteilen gibt es heute nichts mehr. Also begeben sich die Londoner Freiwilligen zu einem Freund: dem Pakistani Ali, der in einem mit blauer Plane verkleideten Schuppen ein Restaurant betreibt. Besonders David Lewis begrüßt Ali herzlich. Sie kennen einander von früheren Besuchen.
Lewis’ Vorfahren flohen einst aus Osteuropa und fanden in England ein neues Zuhause. »Ich habe eine seltsame Affinität zu den Flüchtlingen hier«, sagt er, »irgendwie fühle ich mich selbst wie einer.«
Muslime Von negativen Erfahrungen als Juden im Dschungel, dessen Bewohner zu einem großen Teil Muslime sind, kann niemand berichten. Mehr noch: Weder Nic Schlagman noch Hannah Jacobs oder David Lewis machen sich überhaupt darüber Gedanken. »Für die Menschen hier sind wir einfach weiße Europäer oder Briten«, sagt Lewis. Beim Sägen, Zimmern oder Kleidungausteilen treten die Freiwilligen also nicht offen als Juden in Erscheinung. Aber sie tun das nicht, weil sie Bedenken hätten, sondern weil sie nicht wüssten, warum sie das tun sollten.
Fremd sind diese Bedenken auch Salih Adam Salih. Der Sudanese, der heute zum zweiten Mal mit über den Kanal gekommen ist, war 2014 selbst als Flüchtling im Dschungel. Versteckt auf einem Lastwagen gelangte er mit der Bahn durch den Tunnel nach Großbritannien. Da er in London einige Zeit obdachlos war, schlief Salih im Nachtasyl der Synagoge. Dort lernte er Nic Schlagman kennen, der ihn einlud, mit nach Calais zu fahren
Ob das seltsam ist, als Muslim mit einer jüdischen Organisation zurückzukommen? Salih schüttelt den Kopf, als fände er die Frage abwegig. »Ich fühle nichts Negatives. Ich habe verschiedene Menschen getroffen in Europa. Juden sind freundliche Leute. Grundsätzlich ist ein Mensch einfach ein Mensch.« Salih Adam Salih will in Zukunft häufiger mit der West London Synagogue in den Dschungel reisen.